Die AfD hat sich beim Ältestenrat beschwert: Eine Sachverständige habe der Partei in einer Anhörung im Bundestag nicht geantwortet. Der Ältestenrat reagierte mit einem Antwortzwang. Dagegen wehren sich nun zahlreiche Sachverständige.
Zahlreiche Menschen, die in der Vergangenheit als Sachverständige im Bundestag gesprochen haben, wehren sich dagegen, in Zukunft der rechtsradikalen AfD in Anhörungen antworten zu müssen. Im Einladungsschreiben des Bundestages an Sachverständige ist neuerdings ein Passus enthalten, der dies einfordert.
Hintergrund des offenen Briefes (PDF) ist das Verhalten von AfD-Abgeordneten im Digitalausschuss. Dort hatte der AfD-Mann Eugen Schmidt versucht, die Sachverständige Aline Blankertz in einer Anhörung Mitte November als „linksradikal“ zu delegitimieren. Er wollte wissen, ob sie auch dann für Transparenz sei, wenn es um Daten zu Herkunft von Menschen gehe, die in Deutschland eingebürgert wurden, und hatte diese Frage völkisch aufgeladen, indem Einbürgerungen als Belastung dargestellt wurden. Blankertz antwortete daraufhin: „Meine Antwort richtet sich an alle demokratischen Parteien und lautet: Nein.“
Blankertz hatte schon im Juni einer Abgeordneten der rechtsradikalen Partei die Antwort verweigert. In einem Gastbeitrag, den Blankertz bei netzpolitik.org veröffentlichte, forderte sie zudem, dass Digitalpolitik Teil der Brandmauer gehen Rechtsextreme sein müsse.
Laut der Vorsitzenden des Digitalausschusses, Tabea Rößner (Grüne), hatte die AfD den Fall zuletzt in den Ältestenrat des Bundestages eskaliert. Der Angriff auf Blankertz durch den AfD-Abgeordneten Schmidt blieb jedoch ohne Folgen.
„Individuelle Gewissensfreiheit der Sachverständigen“
Im heute veröffentlichten offenen Brief wehren sich die 28 Sachverständigen dagegen, dass mit dem Einladungstext „eine Gleichbehandlung aller Parteien und aller Abgeordneten eingefordert wird, die nicht mit der individuellen Gewissens- und Entscheidungsfreiheit der Sachverständigen zu vereinbaren“ sei. Die Expertise stünde außerdem allen Abgeordneten schriftlich in den Stellungnahmen zur Verfügung. „Diese Fachkompetenz in den politischen Prozess einzubringen, ist aber nicht gleichbedeutend damit, jede einzelne Frage aller Abgeordneten beantworten zu müssen“, so die Sachverständigen.
Im offenen Brief heißt es weiter:
Gleichzeitig vereint uns die Sorge, dass nicht jeder Abgeordnete, der durch Wahlen einen Sitz im Deutschen Bundestag erlangt, gleichermaßen für die zentralen und unverbrüchlichen Werte unseres Grundgesetzes eintritt: den Schutz der Menschenwürde, des Rechtsstaats und der Demokratie. Es gibt politische Positionen, deren Gleichbehandlung Sachverständigen nicht vorgeschrieben werden sollte – insbesondere Positionen, die demokratische Prozesse instrumentalisieren, um eine völkisch-nationalistische Politik zu betreiben, gegen Minderheiten hetzen und Rassismus verbreiten.
„Individuelle Antwortfreiheit anerkennen“
Die Forderung im Einladungsschreiben normalisiere die politischen Kräfte im Parlament, die nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen würden. „Darauf müssen auch Sachverständige im Bundestag nach ihrem Gewissen und ihren persönlichen ethischen Grundsätzen angemessen reagieren und dabei auf den Schutz der Sitzungsleitung vertrauen dürfen“, heißt es in dem Schreiben.
Zu den Unterzeichnenden des offenen Briefes gehören neben Aline Blankertz viele weitere namhafte Expert:innen aus der digitalen Zivilgesellschaft sowie von Datenschutz- und Menschenrechtsorganisationen. Sie fordern den Bundestag auf, eine neue Formulierung zu finden, welche die individuelle Antwortfreiheit anerkenne.
Offenlegung: Unter den Unterzeichner:innen ist auch ein Mitglied unserer Redaktion sowie eine freie Autorin, die regelmäßig auf netzpolitik.org veröffentlicht.
Dokument
An
die Präsidentin des 20. Deutschen Bundestags,
den Ausschuss für Digitales des Deutschen Bundestags und seine Vorsitzenden,
alle weiteren Ausschüsse des Deutschen Bundestags und ihre Vorsitzenden
Sehr geehrte Frau Bas,
sehr geehrte Frau Rößner,
sehr geehrte Vorsitzende der weiteren Ausschüsse des Bundestags,
wir, die Unterzeichnenden dieses Brief, haben in der Vergangenheit im Ausschuss für Digitales oder in anderen Ausschüssen des Bundestags als Sachverständige Stellung genommen zu Sachfragen, politischen Prozessen und Gesetzgebungsverfahren.
Gemeinsam wenden wir uns heute an Sie als Reaktion auf die Änderungen in den Einladungsschreiben an Sachverständige, wie sie spätestens seit der öffentlichen Anhörung zum Thema „Daten-Governance-Gesetz“ am 13. November 2024 versandt werden. Nach unserem Verständnis ist die Änderung eine Reaktion auf eine Eskalation zum Ältestenrat durch die AfD, nachdem Sachverständige Antworten auf Fragen von AfD-Abgeordneten verweigerten. In dem Anschreiben heißt es:
„Weiterhin möchte ich Sie vorsorglich darauf hinweisen, dass es der seit Jahrzehnten etablierten parlamentarischen Praxis entspricht, dass die eingeladenen Sachverständigen die Fragen aller im Ausschuss vertretenden Fraktionen, Gruppen und fraktionslosen Abgeordneten beantworten. Denn die Expertise der Sachverständigen soll dem gesamten Ausschuss zur Verfügung stehen.“
Die Expertise der Sachverständigen steht schriftlich und mündlich selbstverständlich allen Abgeordneten und auch allen weiteren an der Ausschussarbeit Interessierten zur Verfügung. Diese Fachkompetenz in den politischen Prozess einzubringen, ist aber nicht gleichbedeutend damit, jede einzelne Frage aller Abgeordneten beantworten zu müssen.
Wir teilen die Motivation, die Anhörungen im Bundestag als Ort der sachlichen Auseinandersetzung zu bewahren. Zugleich möchten wir unserer Sorge Ausdruck verleihen, dass mit dieser Formulierung eine Gleichbehandlung aller Parteien und aller Abgeordneten eingefordert wird, die nicht mit der individuellen Gewissens- und Entscheidungsfreiheit der Sachverständigen zu vereinbaren ist.
Uns vereint ein tiefer Respekt vor der Arbeit der Ausschüsse und den parlamentarischen Prozessen unserer Demokratie. Diese sind geprägt vom parlamentarischen Recht auf Selbstorganisation, dem wir in keiner Weise vorgreifen möchten. Wir waren und sind bestrebt, die Arbeit des Deutschen Bundestags durch ernsthaftes und gewissenhaftes Einbringen unserer Expertise zu unterstützen. Gleichzeitig vereint uns die Sorge, dass nicht jeder Abgeordnete, der durch Wahlen einen Sitz im Deutschen Bundestag erlangt, gleichermaßen für die zentralen und unverbrüchlichen Werte unseres Grundgesetzes eintritt: den Schutz der Menschenwürde, des Rechtsstaats und der Demokratie. Es gibt politische Positionen, deren Gleichbehandlung Sachverständigen nicht vorgeschrieben werden sollte – insbesondere Positionen, die demokratische Prozesse instrumentalisieren, um eine völkisch-nationalistische Politik zu betreiben, gegen Minderheiten hetzen und Rassismus verbreiten.
Wir haben in der Vergangenheit einen individuellen Umgang mit Fragen aus politischen Lagern mit solchen Positionen gefunden. Dieser Umgang umfasst ein weites Spektrum – einschließlich der Weigerung, unseren Sachverstand für bestimmte Abgeordnete zur Verfügung zu stellen, sowie die kritische Einordnung der politischen Motive einer Frage. Ähnliches gilt für schriftliche Fragen, in denen ebenfalls tendenziöse Formulierungen enthalten waren.
Die neue Formulierung im Einladungsschreiben drückt jedoch die Erwartung einer ausnahmslosen Gleichbehandlung aller im Ausschuss vertretenden Fraktionen, Gruppen und fraktionslosen Abgeordneten aus. Damit normalisiert sie die politischen Kräfte im Parlament, denen nicht die gleiche Annahme entgegengebracht werden kann, nämlich auf dem Boden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu stehen. Darauf müssen auch Sachverständige im Bundestag nach ihrem Gewissen und ihren persönlichen ethischen Grundsätzen angemessen reagieren und dabei auf den Schutz der Sitzungsleitung vertrauen dürfen.
Wir wenden uns daher mit der Bitte an Sie, die neu aufgenommenen Änderungen in den Einladungsschreiben zu überdenken und zu streichen oder durch eine Formulierung zu ersetzen, die die individuelle Antwortfreiheit von Sachverständigen anerkennt.
Mit freundlichen Grüßen
Die Unterzeichnenden
- Aline Blankertz, Structural Integrity
- Kirsten Bock
- Dr. Stefan Brink, wida/Berlin
- Geraldine de Bastion
- Kai Dittmann
- Elina Eickstädt
- Dr. Malte Engeler, Structural Integrity
- Jürgen Geuter, Otherwise Network e.V.
- Dr. Sven Herpig
- Dr. Stefan Heumann
- Dr. Julian Jaursch
- Bianca Kastl
- Dr. Vivian Kube, Rechtsanwältin und FragDenStaat
- Dr. Kim Manuel Künstner
- Dr. Constanze Kurz, Chaos Computer Club
- Sarah Lincoln
- Elisa Lindinger, SUPERRR
- Dr. Bijan Moini
- Dr. Marc Petit
- Dr. Julia Pohle
- Dr. Simon Pschorr
- Dr. Sarah Rachut
- Frederick Richter, LL.M.
- Dr. Simone Ruf
- Arne Semsrott, FragDenStaat
- Teresa Widlok
- Svea Windwehr, D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt
- Lilith Wittmann
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