"Nichts ist ausgeschlossen": NATO kann sich nicht entscheiden, wie die Ukraine kämpfen soll

Von Dawid Narmania

Personalmangel

Um den Frontabschnitt Charkow zu verteidigen, ist das ukrainische Militär gezwungen, Reserven aus dem Hinterland und von anderen Frontabschnitten zu verlegen. Der Grund dafür ist einfach: Die Mobilmachung hat das nötige Tempo noch nicht erreicht und die eintreffende Verstärkung ist zu aktiven Kampfhandlungen nicht bereit. Davon zeugt beispielsweise ein Fall, von dem der Chefredakteur des ukrainischen Nachrichtenportals Zensor, Juri Butussow, berichtete.

Seinen Angaben zufolge wurde die 125. ukrainische Brigade, die gegenwärtig versucht, die Verteidigung von Woltschansk zu organisieren, mit 100 Soldaten verstärkt.

"Allerdings stellte sich heraus, dass diese Menschen wehrunfähig sind. Von allen Angekommenen wurden nur drei in die Brigade aufgenommen. Das heißt, jemand meldete, dass diese Einheit verstärkt wurde, alle Papiere und Berichte wurden verschickt, doch all das ist ein Fake", schildert Butussow.

Ein weiterer Beweis für den Personalmangel ist die Kürzung der Ausbildungszeit von zwei auf anderthalb Monate. Darüber hinaus begann Kiews Regierung eine Kampagne zur Anwerbung von Häftlingen. Doch damit nicht genug.

"Elegante" und gefährliche Lösung

In den vergangenen Tagen diskutieren Kiew und seine westlichen Verbündeten immer ausgiebiger über die Möglichkeit, NATO-Truppen in die Ukraine zu schicken. Am Weitesten ging dabei Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der sich bereits zuvor zu diesem Thema geäußert hatte.

Am Montag kündigte der Oberbefehlshaber des ukrainischen Militärs, Alexandr Syrski, erstmals offiziell an, dass französische Militärausbilder bald in der Ukraine eintreffen würden. Bis dahin bildeten westliche Offiziere ukrainische Soldaten ausschließlich im Ausland aus.

"Ich habe bereits die Dokumente unterzeichnet, die den ersten französischen Ausbildern erlauben, unsere Ausbildungsstätten zu besuchen und sich mit ihrer Infrastruktur und dem Personal bekannt zu machen. Ich glaube, dass Frankreichs Entschlossenheit auch andere Partner anregen wird, sich diesem ambitionierten Projekt anzuschließen", sagte Syrski.

Doch die Rede ist nicht bloß von Ausbildern. Mitte April tauchten Meldungen auf, wonach Russlands Streitkräfte französische Besatzungen von CAESAR-Selbstfahrlafetten in Slawjansk angegriffen hätten. In dieser Woche wurde ein Foto eines Söldners mit dem Abzeichen des Zweiten Fallschirmjägerregiments der französischen Fremdenlegion veröffentlicht, der am Frontabschnitt Donezk getötet wurde.

Dennoch dementierte Paris Syrskis Angaben. Zunächst führte Frankreichs Verteidigungsministerium an, dass sich diese Angelegenheit noch in Arbeit befinde. Später nannte auch der Präsident der Fünften Republik selbst die Ankündigungen des Kiewer Befehlshabers "nicht abgestimmt und unglücklich".

Macron fügte hinzu, dass er beabsichtige, mit Selenskij unmittelbar und detaillierter über das Format der Unterstützung der Ukraine zu sprechen, wenn dieser am 6. und 7. Juni anlässlich des Jahrestags der Landung der Alliierten in der Normandie nach Frankreich reisen wird.

Nicht nur Franzosen

Nach Medienangaben ist die Idee noch längst nicht vom Tisch.

"Die Entsendung von französischen und europäischen Ausbildern in die Ukraine kann eine Frage weniger Wochen oder gar Tage sein. Im Élysée-Palast will man eine Koalition aus Ländern gründen, die ukrainische Soldaten in ihrer Heimat ausbilden wollen", schrieb Le Monde.

Der ersten Gruppe werden einige Dutzende Spezialisten angehören, später soll ihre Anzahl in den dreistelligen Bereich gehen, so die Zeitung. Sie sollen Ingenieure und motorisierte Schützen ausbilden. Der Koalition könnten sich Litauen, Estland, Großbritannien und weitere Länder anschließen.

"Wir sollen keine Varianten ausschließen. Soll Putin rätseln, was wir vorhaben", kommentierte Außenminister Radosław Sikorski die Haltung Polens in einem Interview an die Gazeta Wyborcza.

Wie der Spiegel berichtet, sind die Bedingungen der Entsendung von polnischen und baltischen Truppen in die Ukraine ähnlich wie die von Macron angekündigten. "Gelingt den Russen im Osten der Ukraine ein strategischer Durchbruch, weil der Westen Kiew nur halbherzig hilft, könnte sich die Lage dramatisch zuspitzen. In einem solchen Fall würden die baltischen Staaten und Polen nicht warten, bis russische Truppen an ihrer Grenze aufmarschierten, warnten die baltischen Politiker – sie würden also selbst Truppen in die Ukraine schicken", schlussfolgern die Autoren des Blattes.

Einige Länder haben sich jedoch bereits gegen eine solche Initiative ausgesprochen: Die USA, Deutschland und Spanien betonten mehrfach, dass sie unter keinen Umständen Truppen in die Ukraine schicken würden.

Gegen die "alten" Gebiete

Ein weiteres Thema, das vor dem Hintergrund der Probleme des ukrainischen Militärs an der Front immer aktiver diskutiert wird, sind Angriffe auf das russische Hinterland. Bisher hatte der Westen offiziell den Einsatz seiner Waffen für dort liegende Ziele verboten.

Die Bereitschaft, auf diese Einschränkung zu verzichten, äußerten bereits Großbritannien, Frankreich, Polen, Schweden, Finnland, die Niederlande, Dänemark, Kanada, Litauen, Lettland und Estland.

Und wie die New York Times behauptet, sollen die USA bald folgen. "Biden nähert sich dem, was zu einer der wichtigsten Entscheidungen im Krieg gegen die Ukraine wird – der Abschaffung des Verbots, US-amerikanische Waffen gegen Russlands Territorium einzusetzen", meldet die Zeitung.

Das Gleiche betrifft nach Angaben von Politico auch Olaf Scholz. Während der Gespräche mit Macron sagte er, dass die Ukraine deutsche Waffen "im Rahmen des Völkerrechts" einsetzen könne. Da Berlin Moskau für den Aggressor in dem Konflikt hält, wären auch Angriffe auf Russland erlaubt.

Der Generalsekretär der NATO, Jens Stoltenberg, unterstützt Angriffe auf Ziele außerhalb des Konfliktgebiets, lehnt aber eine Entsendung von Truppen in die Ukraine ab.

In Russland wird die "öffentliche Diskussion" zu diesem Thema mit Skepsis betrachtet. "US-amerikanische Waffen wurden bereits gegen unterschiedlichste Objekte außerhalb der Konfliktzone eingesetzt", erinnerte der russische Außenminister Sergei Lawrow. "Daher ist es meiner Meinung nach eine Trickserei, wenn die US-Amerikaner für ihre eigene öffentliche Meinung oder für NATO-Mitglieder irgendwelche beruhigenden Erklärungen abzugeben und zu zeigen versuchen, dass die Entscheidung noch nicht getroffen sei."

Auch Wladimir Putin äußerte sich. "Vertreter von NATO-Ländern, besonders in Europa, besonders in kleinen Ländern, sollten sich bewusst sein, womit sie spielen. Sie sollten sich daran erinnern, dass es in der Regel Staaten mit kleinem Gebiet und sehr hoher Bevölkerungsdichte sind. Das ist ein Faktor, den sie berücksichtigen müssen, bevor sie über Angriffe auf das russische Hinterland reden", erklärte der Präsident.

Es ist klar, dass eine Intensivierung der Angriffe auf Russlands Territorium, ganz zu schweigen von der Präsenz westlicher Truppen in der Ukraine, auch wenn es sich lediglich um Ausbilder handelt, die weitere Eskalation des Konflikts fördert. Und das kann für den Westen zu unerwarteten Folgen führen.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 31. Mai 2024 bei RIA Nowosti.

Mehr zum Thema: Soll sich der Westen an die Vorstellung eines Weltkrieges gewöhnen?

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