Neuwahlen in Frankreich: Keine wirklichen Veränderungen in Sicht

Von Pierre Levy

Die Franzosen werden in wenigen Tagen, am 30. Juni und 7. Juli, an die Urnen gerufen, um ihre Abgeordneten neu wählen. Dies als Folge der Auflösung der Nationalversammlung, einer Überraschungsentscheidung, die der Präsident der Republik eine Stunde nach Abschluss der Europawahlen vom 9. Juni bekannt gegeben hatte.

Diese hatten in Frankreich ein regelrechtes Debakel für das Lager von Emmanuel Macron bedeutet. Die Liste der Rassemblement National (RN), die als rechtsextrem eingestuft wird, eine Bezeichnung, die die Partei selbst bestreitet, erreichte 31,4 Prozent der Stimmen, mehr als doppelt so viele wie das Lager des Präsidenten (14,6 Prozent). Der Herr des Élysée-Palasts hatte diesen Sieg zum Vorwand genommen, um seine Entscheidung zu rechtfertigen: Die braune Pest stehe vor der Tür. In Wirklichkeit hoffte er, die Karten neu mischen zu können, indem er auf eine kurze Frist setzte, um seine Gegner zu überrumpeln.

Da hat er sich verkalkuliert: Die Linke war zwar sehr gespalten, konnte aber dennoch ein Wahlabkommen unterzeichnen, das auf einem Minimalprogramm und der Aufstellung eines einzigen Kandidaten in jedem Wahlkreis basiert. Die RN ihrerseits triumphierte und rechnet damit, am 30. Juni von der drei Wochen zuvor entstandenen Dynamik profitieren zu können. Die "klassische" Rechte (Le Républicains, LR) schließlich explodierte zwischen einem Bündnis mit der RN, das von ihrem Vorsitzenden beschlossen worden ist, und der großen Mehrheit ihrer anderen Führer, die sich dafür entschieden, eigenständig zu kandidieren.

In der Koalition, die bislang Emmanuel Macron unterstützte, herrscht nunmehr eine Mischung aus großem Durcheinander und "rette sich, wer kann". Während die Amtszeit des Präsidenten theoretisch bis 2027 läuft, sagen viele Persönlichkeiten, wie der ehemalige Premierminister Édouard Philippe, bereits "das Ende der Macronie" voraus.

Zwar hat Frankreich in der Vergangenheit bereits mehrere Auflösungen der Nationalversammlung erlebt, aber die dadurch im Land entstandene politische Situation mit drei rivalisierenden Blöcken, die vorgeben, antagonistisch zu sein, ist buchstäblich beispiellos. Dies, in Verbindung mit dem Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen, macht Prognosen gänzlich unsicher.

Das Erreichen einer absoluten Mehrheit durch das präsidiale Lager (das der liberalen europäischen Familie angehört), das ursprüngliche Ziel des Élysée-Palasts, erscheint als die unwahrscheinlichste aller Hypothesen. Der Staatschef ist so unpopulär, dass seine eigenen politischen Freunde ihn anflehen, zu schweigen, da jede weitere Äußerung die Chancen seiner Kandidaten zu schmälern scheint …

Ein Sieg der "Linken", die unter dem Label "Neue Volksfront" zusammengeflickt wurde, ist nicht völlig ausgeschlossen, erscheint aber wenig wahrscheinlich. Wenn man die Stimmen der einzelnen Parteien zusammenzählt, kommt sie nicht über 30 Prozent der Stimmen hinaus, was ein historischer Tiefstand ist. Ihre Regierungszeiten – zuletzt während der fünfjährigen Amtszeit des sozialistischen Präsidenten François Hollande (2012 bis 2017) – haben in der Arbeiterklasse sehr schlechte Erinnerungen hinterlassen.

Öffnet dies der RN, die ihren jungen Vorsitzenden Jordan Bardella schon als Premierminister sieht, einen triumphalen Weg, mit der Aussicht, dass Marine Le Pen bald in den Élysée-Palast gewählt wird? Einige Kommentatoren – oftmals, um sich selbst Angst einzujagen – sprechen von der "Chronik eines angekündigten Sieges". Das Problem mit angekündigten Siegen ist, dass oftmals nichts so eintritt, wie es geplant war.

Ein erstes Handicap für die RN ist das Ausmaß und die Gewalt der Kampagnen, die ihren Machtantritt als Vorboten des Faschismus darstellen. Es gibt immer mehr Aufrufe, sie zu blockieren, von den großen Medien über Gewerkschaften, Künstler oder Sportler bis zu … der Vogelschutzliga. In der Wirklichkeit würde ein Wahlsieg dieser Partei wahrscheinlich eher eine Politik à la Meloni – eine Anpassung an die herrschende Ideologie auf sozialer, wirtschaftlicher und internationaler Ebene – als eine Flut von Braunhemden auslösen.

Zumal die Partei seit Jahren versucht, sich zu "entdämonisieren", d. h. sich für die Eliten salonfähig zu machen. Die Idee ist, gemäßigte Wähler zu verführen. Dieser Trend hat sich seit dem 9. Juni beschleunigt. Es vergeht kaum ein Tag, an dem Herr Bardella nicht eine Zusage aufgibt oder ein Versprechen aus seinem Programm aufschiebt. Der emblematischste Fall ist das Aufheben der Rentenreform, die im vergangenen Jahr von Macron und seiner Regierung durchgesetzt wurde. Diese aufzuheben sei nicht mehr so dringend …

Aber da die Führer der RN so sehr darauf bedacht sind, "verantwortlich" zu erscheinen, könnten sie am Ende die Volksschichten abschrecken, die den Erfolg der RN ausgemacht haben.

Unter all diesen Umständen ist es am unwahrscheinlichsten, dass keine der drei Allianzen eine absolute Mehrheit erringt – und dass eine Nationalversammlung ohne Mehrheit gewählt wird, die also noch entscheidungsunfähiger ist als die vorherige. Denn vorerst schließt jeder der drei Blöcke ein Bündnis mit einem der beiden anderen Blöcke absolut aus.

In dieser Konstellation würden die großen Manöver beginnen, um einen "zentralen Block" zu bilden, der die Macronisten, Abgeordnete aus dem linken Lager (vor allem Sozialisten) und andere aus dem rechten Lager (LR) vereinen würde. Zur großen Zufriedenheit der herrschenden Eliten – und Brüssels.

Es ist natürlich noch zu früh, um in diese Richtung zu spekulieren. Hingegen kann man auf mindestens zwei Bereiche hinweisen, in denen sich die drei Blöcke trotz ihrer offen zur Schau gestellten Konfrontationen in einigen absichtlich "vergessenen"  Bereichen treffen.

Der erste Bereich ist eben Europa und die von ihm auferlegten Zwänge, insbesondere die finanziellen. Auch wenn sie noch so minimal und ungenau sind, belaufen sich die Programme der einen und der anderen Seite auf zig Milliarden Euro an zusätzlichen öffentlichen Ausgaben. Dies gilt sowohl für die RN als auch für die Linke.

Paradoxerweise gilt dies auch für das Lager des Präsidenten, wenn auch in geringerem Umfang. Eine seltsame Haltung für diejenigen – die von Gabriel Attal geführte Regierung – die gerade eine erste Kürzung der Haushaltsausgaben um 20 Milliarden Euro angekündigt hatten und nicht verhehlten, dass sie demnächst noch weiter auf dem Weg der Austerität gehen wollten … denn Brüssel wacht.

Am 12. Juni hat sich übrigens die Europäische Kommission in den Wahlkampf eingemischt und vorgeschlagen, gegen sieben Länder, darunter Frankreich, ein Verfahren wegen übermäßiger Defizite einzuleiten (der Europäische Rat wird dieses Verfahren Mitte Juli bestätigen). Wenn die politischen Parteien also konsequent wären, müssten sie klarstellen, ob ihre Versprechen nur für die Zeit der Wahlen gelten oder ob sie mit der Europäischen Union brechen wollen.

Letzteres schließt das macronistische Lager natürlich aus, wird aber auch sowohl von der RN als auch von der Linken abgelehnt. Zwar spricht die von Jean-Luc Mélenchon gegründete Partei La France insoumise (LFI, die Mitglied der linken Koalition ist) von der Möglichkeit, "Brüssel nicht zu gehorchen", aber nicht davon, diesen Klub und seine Regeln zu verlassen. Dieses Schweigen stellt eine rechtlich und politisch unhaltbare Zweideutigkeit dar.

Was die RN betrifft, so hat sie sich schon vor langer Zeit der europäischen Integration angeschlossen (mit der Begründung, sie hoffe, die EU von innen heraus verändern zu können). Das hindert sie jedoch nicht daran, Maßnahmen vorzuschlagen, die mit dem europäischen Rahmen unvereinbar sind, und zwar nicht nur haushaltspolitischer Art. Dies gilt beispielsweise für Vorschläge zur Einwanderung oder zu Grenzkontrollen.

Unter diesen Umständen ist es verständlich, dass sowohl die einen wie die anderen sehr zurückhaltend sind, sobald es darum geht, die europäische Integration in die Debatte einzubringen.

Was den zweiten Bereich, den Krieg in der Ukraine, betrifft, so herrscht zwischen den drei Blöcken Konsens. Es gibt natürlich Nuancen, aber alle befürworten die Fortsetzung der aktiven Unterstützung Kiews, einschließlich der militärischen.

Für den macronistischen Block versteht sich das natürlich von selbst: Der französische Präsident ist einer der kriegslüsternsten westlichen Politiker, und er hat nicht vor, diese Haltung zu ändern. Was die RN betrifft, so hält sie angesichts der Anschuldigungen ihrer Gegner, sie sei ein traditioneller Verbündeter Moskaus, immer wieder "beruhigende" Worte bereit. Auch hier schließt sie sich aus Gründen der Salonfähigkeit und unter Einhaltung bestimmter "roter Linien" dem atlantischen Lager an, indem sie darauf verzichtet, aus dem integrierten NATO-Kommando auszusteigen, wie sie es einst versprochen hatte.

Die "neue Volksfront" plant auch keinen Bruch mit der westlichen Solidarität (ihr Programm will "die Souveränität und Freiheit des ukrainischen Volkes (…) durch die Lieferung der notwendigen Waffen unerschütterlich verteidigen"). Natürlich hatte niemand erwartet, dass die Linke den russischen Standpunkt übernehmen würde. Aber hätte sie sich dem westlichen "Narrativ" eines russischen "Angriffskriegs" gegen die Ukraine anschließen müssen, als ob die Geschichte mit dem Einmarsch russischer Truppen im Nachbarland im Jahr 2022 begonnen hätte? Als ob die EU und die NATO nicht schon seit 2004 (und sogar noch früher) versucht hätten, die Ukraine in ihren Schoß zu holen?

Es wäre für die Linke (oder zumindest einige ihrer Mitgliederorganisationen) nicht unwürdig gewesen, die Verantwortlichkeiten zu differenzieren; und vor allem an ihre alten pazifistischen Traditionen anzuknüpfen, die sich kaum mit der Finanzierung von Flugzeugen und Kanonen für Kiew vereinbaren lassen.

Europa? Krieg? Solche Debatten scheinen nicht auf der Tagesordnung zu stehen. Daher ist es unwahrscheinlich, dass die Wahlen in Frankreich zu wirklichen Veränderungen führen werden. Für den Moment.

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