L’amour toujours: Wie ein Party-Song zum Nazi-Meme wurde

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Es ist nur ein kurzes Video, doch es macht auf einen Schlag deutlich, wie bereit Menschen sind, ungehemmt Rassismus in die Kamera zu grölen: Feiernde, die auf Sylt „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“ singen, zur Melodie des Partysongs „L’amour toujours“ von Gigi D’Agostino. Ein Mann deutet mit seinen Fingern einen Hitlerbart an und erhebt den rechten Arm zum verbotenen „deutschen Gruß“.

Das Video machte seine Runden in den sozialen Netzwerken, Medien berichten bundesweit darüber, führende Politiker*innen verurteilen den Rassismus. Der Grundtenor dabei: große Überraschung. Wie ist es möglich, dass sich wohlhabende junge Menschen, die sich im „Schickimicki-Milieu“ von Sylt bewegen, zu solchen Äußerungen hinreißen lassen?

Überraschend ist nur die Enthemmung

Dass wohlhabende junge Leute solche Parolen singen, kommt nicht überraschend.  Regelmäßige repräsentative Umfragen zu rechtsextremen Einstellungen in Deutschland belegen, dass Rassismus in allen gesellschaftlichen Milieus verbreitet ist. Zwar unter Einkommensstärkeren etwas weniger, aber der Unterschied ist nicht sehr groß. Reichtum schützt nicht vor rassistischem Denken. Letztlich sitzen auch gut situierte Menschen für rechtsextreme Parteien in Parlamenten überall in Deutschland und der EU. Rassismus ist in allen gesellschaftlichen Milieus und Schichten verbreitet.

Der mediale Aufschrei ist sicher deshalb größer, weil das Bilder sind, die wir in der Form nicht so oft sehen. Rechtsextreme, die in Dorfdiskos oder auf Karnevalszügen rassistische Parolen grölen, das sind Auswüchse, die nicht mehr überraschen. An solche Bilder haben wir uns leider gewöhnt. Dass aber wohlhabend scheinende junge Leute ohne jede Hemmung Nazi-Parolen in der Öffentlichkeit grölen, das Ganze selbst filmen und verbreiten, passiert nicht alle Tage. Dass das Video so große Runden macht, liegt aber auch daran, dass diese rassistischen Entgleisungen bestens in Bild und Ton dokumentiert sind. Das verbreitet sich deutlich einfacher als ein aufgeschriebener Bericht in der Zeitung, eine Polizeimeldung oder ein Foto.

„L’amour toujours“ als rassistische Betriebsanleitung

Genau diese Verbreitung ist es auch, die dazu führt, dass offenbar überall in Deutschland inzwischen Menschen wissen, was ihrer Meinung nach zu tun ist, sobald die ersten Töne von Gigi D’Agostinos „L’amour toujours“ zu hören sind. Dass sich mit einem 20 Jahre alten Partysong Rassismus auf Knopfdruck aktivieren lässt, ist die Popkultur gewordene Variante von Abschiebefantasien aus den Reihen von AfD und anderer Rechtsextremer. Ein metapolitischer Erfolg, der dort ansetzt, wo es harmlos wirkt – im vorpolitischen Raum. Also fernab von Parlamenten, politischen Reden und Parteiprogrammen, sondern direkt in den Köpfen der Menschen. Denn genau darum geht es bei sogenannter Metapolitik, die spätestens seit 2015 integraler Bestandteil der extremen Rechten in Deutschland ist. Raus aus den politischen Arenen, rein in die unmittelbare Lebenswelt der Menschen, also zum Beispiel auf TikTok.

„Ausländer raus“ war in den 1990er Jahren ein Schlachtruf der rechtsextremen Szene – zu hören auf Neonazi-Demos, gedruckt auf NPD-Wahlplakaten. Die AfD modernisierte die Parole, gab ihr mit der scheinbar weniger gewaltvollen Formel von „Remigration“ ein harmloseres Gewand. Am Ende meint es aber das Gleiche.

Sylt war nicht der Anfang

Es überrascht nicht, dass im Januar 2024 dutzende Teilnehmer eines AfD-Landesparteitags im bayerischen Greding in einer Diskothek ebenfalls den einschlägigen Text zu dem D’Agostino-Song grölten. Unter den Besuchern der Disko waren AfD-Landtagsabgeordnete und Mitglieder der Jungen Alternative.

Erstmals berichtete das Magazin Katapult MV über einen solchen Clip, der am 14. Oktober 2023 auf dem Erntefest im Dorf Bergholz in Mecklenburg-Vorpommern aufgenommen wurde. Die Verbreitung des Songs und des menschenfeindlichen Trends folgt einer bewussten rechtsextremen Strategie.

Rassismus als Trend

Seitdem drehen diese Videos ihre Runden durch die sozialen Netzwerke, allen voran TikTok, und entwickeln sich zum sogenannten Trend oder zur „Challenge“, die immer öfter nachgeahmt wird. Rassismus als Meme. Dieser Trend funktioniert deshalb so gut, weil die eingängige Melodie für einen Ohrwurm sorgt, dem man sich kaum entziehen kann. Gerade Musik wird zur Verbreitung rechtsextremer Propaganda gerne benutzt, da diese harmlos daherkommt und eben auch unterbewusst nachwirkt. Mit solchen Trends wird Volksverhetzung als Spaß oder harmlose Provokation abgetan – und schafft es so, auch über die eigene Filterblase hinaus massive Verbreitung zu finden. Durch solche Verbreitungswege wird Rassismus zum Massenphänomen.

Die „For you“-Page von TikTok folgt einem anderen Prinzip, als andere sozialen Netzwerke: Hier werden vor allem Inhalte von Nutzer*innen angezeigt, denen man nicht folgt. Der Algorithmus spielt Content in den eigenen Feed, der gerade hohe Interaktionsraten hervorruft. „Getestet“ wird neuer Content zuerst an einer kleinen Zielgruppe. Wenn diese viel interagiert, erreicht das Video einen immer größer werdenden Kreis an Menschen. Dadurch haben auch neu aufgesetzte  – unter anderem auch rechtsextreme Accounts – die Möglichkeit, reichweitenstarken Content hochzuladen, der massiv verbreitet wird. Besonders Sounds, also bestimmte Tonschnipsel, die auch von anderen frei nutzbar sind, werden auf TikTok begünstigt: Ist eine Challenge oder ein Sound auf der Plattform gerade populär, kommen Nutzer*innen kaum drumherum – unabhängig vom eigenen Nutzungsverhalten.

„L’amour toujours“ als rechte Metapolitik

Einen solchen Erfolg verzeichnet auch das Lied „L’amour toujours“ von Gigi D’Agostino und spielt damit einer rechtsextremen Metapolitik in die Hände. Schon lange vor dem Eklat auf Sylt haben Rechtsextreme den Trend erkannt und vereinnahmen den Song bewusst für ihre Zwecke: Einschlägige Accounts aus dem AfD-Umfeld unterlegen eigene Videos mit „L’amour toujours„, ohne den rassistischen Text darüber zu grölen.

Wer den „Ausländer raus“-Trend einmal gehört hat, weiß, was diese Accounts damit ausdrücken wollen. Der Song wird zur Chiffre, zum Meme, funktioniert auch ohne Text, und alle wissen, was gemeint ist – und was bei der nächsten Dorfdisko zu tun ist. Noch am selben Tag, als ganz Deutschland den Fall Sylt diskutierte und verurteilte, skandierten zwei junge Männer in einer Kneipe im bayerischen Erlangen den rassistischen Text zum inzwischen einschlägigen Song.

Zwei in ihrer Freizeit als Gäste anwesende Polizeibeamte verständigten den Sicherheitsdienst, der die Täter aus der Gaststätte verwies, auch die örtliche Polizei wurde hingezogen, inzwischen ermittelt der Staatsschutz. Unterdessen wurde ein weiteres Video bekannt, das zeigt, wie auf einem Schützenfest im niedersächsischen Löningen das ganze Partyzelt den rassistischen Text singt. Die Aufnahmen stammen, ebenso wie die von Sylt, vom Pfingstwochenende. Unterdessen ist der Song in die deutschen Charts geklettert und wird noch öfter zu hören sein, mutmaßlich mit einem bestimmten Zweck.

Der rassistische Trend wird nicht von allein enden

Gerade vor der anstehenden Europawahl, bei der rechtsextreme Wahlerfolge nur durch klare Abgrenzung zu verhindern sind, ist das ein Grund zu großer Sorge. Mit Blick auf die Fußball-EM muss damit gerechnet werden, dass solche Videos mit „L’amour toujours“ noch öfter zu sehen sein werden. Aufhalten lassen wird sich diese Entwicklung nur durch eine breite Ächtung solcher Parolen und rassistischen Eskalationen – und durch Zivilcourage.

Denn das eigentliche Problem liegt darin, wenn niemand widerspricht und das Lied mit den rassistischen Textzeilen in ausgelassener Runde als Partysong Verbreitung findet und so komplett verharmlost wird. Dass Menschen sich selber vor der Kamera dabei zeigen, wie sie das Lied singen, zeigt, wie akzeptiert und ohne jegliche Scham man mittlerweile zu derlei menschenfeindlichen Texten steht. Ob Bayern, Mecklenburg-Vorpommern oder Sylt: Deutschland hat ein handfestes Problem mit Rassismus und Nationalismus.

Gastbeitrag: Von RIAS Berlin. Dieser Beitrag erschien zuerst bei Belltower News. Artikelbild: Screenshot twitter.com

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