Die 43. Kalenderwoche geht zu Ende. Wir haben 21 neue Texte mit insgesamt 175.757 Zeichen veröffentlicht. Willkommen zum netzpolitischen Wochenrückblick.
Liebe Leser*innen,
was hat netzpolitik.org eigentlich auf der Venus verloren? Es ist jedenfalls kein Standard-Termin wie etwa der Digitalgipfel, den meine Kollegin Anna diese Woche besucht hat (ihre Eindrücke könnt ihr hier nachlesen). Trotzdem, auf der angeblich weltgrößten Erotik-Messe gibt es mehr Netzpolitik als man denkt, wenn man mit den passenden Menschen spricht.
Gesprochen habe ich zuerst mit der Vertreterin einer der weltgrößten Pornoseiten, die uns ein Interview angeboten hat. Das war nicht nur eine seltene, sondern sogar eine bisher einmalige Gelegenheit. Ansonsten stechen Pornoseiten nämlich vor allem dadurch hervor, dass sie unsere Presseanfragen eiskalt ignorieren. Und nun kommen die plötzlich auf uns zu?! Mehr dazu lest ihr voraussichtlich bald auf netzpolitik.org.
Einige von euch werden sich wohl fragen, „wie das so ist“, auf der Venus herumzulaufen. Ganz ehrlich, ich fand es OK. In Erfahrungsberichten von Kolleg*innen meines ehemaligen Arbeitgebers VICE ist die Rede von einem „schlimmen Fiebertraum“, „brutal laut und sehr heiß“, von gaffenden Männern überall. Ich habe mich entsprechend darauf eingestellt, nach wenigen Minuten das Weite suchen zu wollen.
Stellte sich raus: Es war nicht besonders voll, laut oder heiß. Das lag wohl auch daran, dass auf der Venus an einem Donnerstagnachmittag nicht so viel los ist. In den Messehallen gibt es vor allem Stände und Bühnen. Bei den Ständen werben vorrangig weibliche Porno-Darsteller*innen oben ohne für ihre Inhalte und stehen für Selfies bereit. Außerdem präsentieren reihenweise Firmen Dildos, Lackmode oder auch Nahrungsergänzungsmittel für saubereren Analsex.
Auf den Bühnen, gesponsert von großen Pornoseiten, wird nackt bis halbnackt getanzt. Hier dominiert hetero-normativer Mainstream-Porn. Es geht um Kommerz, um Objektivierung und um männliche Blicke auf idealisierte Frauenkörper. Ein künstlicher Raum, der primär für Hetero-Männer geschaffen wurde. Ich hatte mich darauf eingestellt, hier auf gaffende, grölende und teils übergriffige Dudes vom Typ Ballermann-Urlaub zu treffen. Doch das Bild vor Ort war OK. Die meisten waren zurückhaltend und wollten eher nicht zeigen, welche Gefühle die Shows bei ihnen auslösen. Einige haben Fotos geknipst, ein paar wenige hatten Partnerinnen dabei.
Angst vorm Nordischen Modell
Abseits der Bühnen habe ich mich mit Sexarbeiter*innen darüber unterhalten, was sie gerade (netz-)politisch beschäftigt. Der Tenor ist einhellig: Im Mittelpunkt steht die zunehmende Verdrängung von Sexarbeit und Creator*innen aus nicht nur digitalen Räumen. Gesperrte Accounts auf sozialen Medien – selbst, wenn man peinlich genau darauf achtet, nicht zu viel Nacktheit zu zeigen. Banken, die sich weigern, ein Konto einzurichten, sobald man den eigenen Beruf offenlegt. Rückständige Politik, die Sexarbeit tabuisieren und Sexkauf kriminalisieren will. So fordert etwa die Union das Nordische Modell, das die Grundrechte vieler Sexarbeiter*innen empfindlich treffen würde.
Keine Frage, der Kampf für (digitale) Freiheitsrechte hat auch ganz viel mit Sexarbeit zu tun. Es geht um das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und um die Berufsfreiheit von Sexarbeiter*innen. Als ich die Messe wieder verließ, dachte ich mir: Mit ihrem Fokus auf Kommerz und männlichen Mainstream holt mich die Venus zwar nicht ab. Aber hier wird auch eine Freiheit zelebriert, die über die Zielgruppe der Messe hinausgeht, und die nicht selbstverständlich ist.
Euch ein schönes Wochenende
Sebastian
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