Die Cambridge Union Society ist mit weltweit über 70.000 Mitgliedern die älteste Debattiergesellschaft der Welt. Sie versteht sich als Ort der Begegnung von Persönlichkeiten, die auf unsere Welt Einfluss nehmen.
Von REDAKTION | Jeffrey Sachs hielt am Dienstag, den 22. Oktober 2024 vor der Cambridge Union Society eine Rede und beantwortete im Anschluss auch Fragen aus dem Publikum. Die Eröffnungsrede von Sachs hatte die Frage „Kann es eine liberale internationale Ordnung geben?“ zum Thema und war gefolgt von einer Diskussion mit Cambridge Union Mitgliedern unter ihrem Beauftragten, Alex Mitchell.
Die Eröffnungsrede von Jeffrey Sachs
Alex Mitchell: Unser heutiger Gast ist Universitätsprofessor und Direktor des Center for Sustainable Development an der Columbia University, für das er von 2002 bis 2016 das Earth Institute leitete. Er war Sonderbeauftragter von drei Generalsekretären der Vereinten Nationen und ist heute Advocate for Sustainable Development Goals für Generalsekretär Antonio Guterres.
Jeffrey Sachs wurden 42 Ehrendoktortitel verliehen. Zu seinen jüngsten Auszeichnungen zählen der Tang-Preis für nachhaltige Entwicklung 2022 und der Orden des Kreuzes durch den Präsidenten von Estland. Er wird mit einer kurzen Rede, ob eine liberale internationale Ordnung jemals würde möglich sein, beginnen:
Bitte heißen Sie Professor Jeffrey Sachs herzlich willkommen!
Jeffrey Sachs: Worüber werde ich sprechen?
Alex Mitchell: Ob es jemals eine liberale internationale Ordnung wird geben können?
Jeffrey Sachs: Danke! (Gelächter)
Als ich den Raum betrat, weigerte ich mich noch, diese Frage aufzunehmen. Doch es ist ein gutes Thema: Welche Art von internationaler Ordnung oder Unordnung werden wir erleben? Vielen Dank, dass Sie mich und meine Frau heute Abend hierher eingeladen haben. Ich freue mich auf eine großartige Diskussion.
Wir erleben eine Zeit großer Veränderungen, die sich als höchst gefährlich erweisen. Ich wurde eingeladen, um Ihnen aus dieser Situation einen sicheren Weg aufzuzeigen.
Aus irgendeinem Grund erweist sich die Generation der Politiker, welche zurzeit die Welt regieren, sehr unklug und unvernünftig bzw. führen uns nicht in Richtung der Sicherheit in solch außerordentlich gefährlichen Zeiten.
Das ergibt sich jedoch nicht zwingend aus den besagten Umständen: Denn wir könnten unter gleichen Bedingungen, unsere Situation auch als wunderbar, vielversprechend und aufregend einschätzen, um zugleich auf der ganzen Welt ganz große Dinge zu leisten. Wir könnten erkennen – was noch immer nicht geschah – dass es nicht darum ginge, wer die Nummer eins oder vorne wäre, um die Welt zu regieren! Vom Glück verwöhnt sind wir alle auf diesem Planeten aufeinander angewiesen und dazu bestimmt, dasselbe Ergebnis zu erleben: Das kann ein gutes Resultat oder aber auch ein Desaster sein!
Die alten Vorstellungen, die davon ausgehen, es wäre nur wichtig, die Regeln zu bestimmen und Kriege zu gewinnen – sind inzwischen überholt. Solche Ansichten sind aus zwei grundlegenden Gründen veraltet:
- Erstens: Wir dürfen diese Art von Kriegen, die wir jeden Tag erleben und unser Überleben bedrohen, nicht fortsetzen. Denn wir befinden uns gegenwärtig im Atomzeitalter und es ist uns bewusst, Konflikte zwischen Atommächten zu erleben, die unser aller Überleben gefährden.
Das ist etwas Neues in der Geschichte: Wir sind eine Spezies, die – man könnte es sagen – sehr empfänglich für Kriege war, mit Kriegen als Teil der menschlichen Existenz. Aber inzwischen haben sich die Dinge verändert.
Eine der wunderbaren Zeilen von Präsident John F. Kennedy und seinem Redenschreiber Theodore Sorenson stammt aus seiner Antrittsrede, die mir so gut gefällt, indem er sprach:
Denn unsere Zeit ist eine ganz andere. Wir halten in unseren sterblichen Händen die Fähigkeit, alle Formen menschlicher Armut und alle Formen menschlichen Lebens zu beenden.
Das war 1961 – und das ist nach wie vor unser wichtigstes Anliegen:
Wir stehen jeden Tag so knapp vor der Katastrophe, weil wir nicht richtig regiert werden und unsere Vorstellungen von internationaler Ordnung völlig veraltet sind.
- Als zweiten Grund, möchte ich anführen: Wir sind heute so stark vernetzt, sodass die Vorstellung, es könne auf einem so vollständig vernetzten Planeten Gewinner und Verlierer geben, keinen Sinn ergibt. Vielleicht machte es früher Sinn, auch wenn es unmoralisch war. Aber heute macht es in der Tat keinen Sinn davon auszugehen, dass es auf einem Planeten mit so grossem täglichen Austausch und komplexen globalen Interaktionen inklusive Klima- und Umweltstress, welcher überall auf der Welt potenziell katastrophal enden könnte, noch einen Weg gäbe, um es uns gut gehen zu lassen, während die Hälfte der Welt ums Überleben kämpft.
Es beruht auf einer sehr alten Idee – einer ziemlich katastrophalen – die tatsächlich 1798 von Thomas Malthus, der sehr klug war, in England entstand: Er formulierte die falsche Antwort, aber er sprach ein echtes Problem an: Er sagte im Grunde, es gebe nicht genug für alle, also blieben wir zur Armut verdammt:
Wenn wir nicht immer, dann zumindest irgendwann in der Lage wären, der Armut zu entkommen, würden wir durch das Bevölkerungswachstum wieder in Armut verfallen. Wir würden nie wirklich in die Lage versetzt, einen ausreichenden Lebensstandard zu sichern. Charles Darwin erfasste dabei der „Aha“-Effekt, als er das Essay zu den Prinzipien der Bevölkerung von Malthus las und es „Aha“ bei ihm machte: Denn, von daher stammt seine These von der natürlichen Auslese!
Sie fusst darauf, dass es stets mehr Organismen gäbe, als in ihrer physischen Umgebung existieren könnten und das wurde von anderen weitergetrieben:
Sie sagten, dass dies nun unser Kampf als Menschen ums Überleben auf diesem Planeten wäre, als Nationen gegen Nationen oder als Rassen gegen Rassen.
Wir befänden uns in einem Kampf ums Überleben. Das ist Sozialdarwinismus und es gibt noch extremere Versionen davon. Doch, diese Idee ist falsch: Sie ist aus verständlichen und nachvollziehbaren Gründen falsch, die zu diskutieren viel Zeit in Anspruch nehmen würde, aber es genügt so viel zu sagen: Es sind zwei auffällige Dinge, die Malthus falsch aufgefasst hatte:
Er glaubte, dass reichere Menschen mehr Kinder mit Überlebenschancen produzieren und Kinder aus höheren Einkommensschichten mit einer Überlebensrate über dem Existenzminimum überleben liessen, was die Bevölkerung vergrößern würde. Was er jedoch übersah, waren moderne Verhütungsmittel sowie kultureller Wandel, indem Leute mit höherem Einkommen inzwischen tatsächlich weniger Kinder kriegen.
In Ländern mit hohem Einkommen gibt es nicht einmal genug , um die erwachsene Generation zu ersetzen. Die Fruchtbarkeitsraten ergeben heute vielerorts, dass auf zehn Mütter nur sieben Töchter kommen, was nachfolgende Generationen nicht ersetzt und einen Bevölkerungsrückgang gleichkommt.
Malthus hat folgendes nicht verstanden: Er hat die Vorteile des technologischen Fortschritts übersehen, denn dieser sollte nach 1798 auf eine Weise explodieren, wie er es sich nicht hatte vorstellen können.
Aber das Vermächtnis jener Idee besagt, dass wir uns in einem Kampf befänden, sodass es hiess: «Wir oder sie!» Die schrecklichste Vision davon – die von Hitler – lautete, dass man Lebensraum brauchte, weil das deutsche arische Volk ansonsten nicht überleben könne:
Man müsse demnach die Länder der Slawen im Osten erobern. Das war im Übrigen die Grundidee, welche er von deutschen Wissenschaftlern aufgriff. Letztere griffen diese von Sozialdarwinisten in diesem Land auf, die sie von Darwin aufgegriffen haben, der sie wiederum von Malthus aufgegriffen hatte.
Es handelt sich tatsächlich um eine Reihe von Ideen – es war nicht nur Wahnsinn: Es war eine Reihe von Ideen, die Anfang des 20. Jahrhunderts unter deutschen Sozialwissenschaftlern und deutschen Wissenschaftlern weite Verbreitung fanden.
Gott sei Dank ist das falsch:
- Wir befinden uns nicht in einem Kampf zwischen den USA und China. Dafür gibt es keine Grundlage!
- Wir befinden uns nicht in einem immanenten Krieg zwischen den USA und Russland. Russland übrigens, ganz im Gegenteil zu dem, was tagtäglich aufs Neue verbreitet wird, will wirklich nicht mehr Land. Russland erstreckt sich über elf Zeitzonen: Das Letzte, was sie benötigten oder wollten, wäre mehr Land!
- Der Krieg dreht sich um ganz andere Dinge als um all das, was Sie und ich jeden Tag in unseren Zeitungen lesen. Denn unsere Zeitungen erzählen uns Geschichten, die letztlich auf Narrative, die im US-Verteidigungsministerium und in der CIA erdacht werden, zurückgehen, doch sich als völliger Schwindel erweisen.
Was hat es mit dieser internationalen Ordnung auf sich? Die internationale Ordnung stellt sich als extrem gefährlich dar, weil:
- wir bis an die Zähne mit Atomwaffen hochgerüstet sind.
- wir am Rande einer Umweltkatastrophe wandeln.
- wir, um es höflich auszudrücken von:
Staatsführern, die den Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, nicht ganz gewachsen sind, regiert werden!
Man geht die Herausforderung nicht richtig an. Ich persönlich bin ein wenig erleichtert, hier zu sein: Denn gestern, als ich in der Oxford Union war, musste ich nur daran denken, dass Boris Johnson Präsident der Oxford Union wäre. Hier hingegen mag ich daran denken, dass Keynes Präsident der Cambridge Union sei: Ich fühle mich in dieser Hinsicht so viel besser und wohler, obwohl ich die Veranstaltung gestern so sehr geschätzt habe, weil BoJo nicht da gewesen war, aber im Geiste meiner Ausführungen zugegen weilte:
Weil er ein Beispiel für einen der katastrophalsten Politiker unserer Zeit darstellt und er in der Welt profunden Schaden angerichtet hat und weiterhin für uns alle eine Gefahr darstellt.
Ich sage das nicht leichtfertig und ich sage es nicht parteiisch: Ich sage nur, dass solche Menschen extrem gefährlich sind und mit unseren Leben nur allzu leichtfertig um sich werfen.
Die Frage ist also, bevor ich mich gleich hinsetzen werde, um anschliessend unsere Diskussion zu beginnen:
Können wir eine internationale Ordnung haben, die friedlich, sicher und geordnet wäre, um das Wohlergehen der Menschen auf der ganzen Welt zu verbessern? Die Antwort lautet eindeutig: Ja. Haben wir eine solche jetzt? Die Antwort lautet eindeutig: Nein!
Haben wir das Zeug dazu, um es dahin zu bringen? Meine Antwort über den größten Teil meines Berufslebens hinweg war: „Ja, wir können dafür sorgen, dass die Vereinten Nationen ihren Zweck tatsächlich erfüllten“
Deshalb habe ich mich über die letzten 25 Jahren so ziemlich jeden Tag in Form von Freiwilligenarbeit für die UNO eingesetzt. Denn, ich denke, dass sie unsere größte Hoffnung für eine globale Ordnung darstellt und wirklich das repräsentiert, was wir wollen und brauchen. Im Moment funktioniert sie nicht. Das macht mich jedoch nicht zynisch, sondern nur besorgt. Es stimmt mich traurig, doch ich meine zu sehen, warum sie nicht funktionieren kann:
Sie wurde 1945 gegründet, indem die Großmächte zu ihrem Vetorecht kamen und das ist sicher der am meisten lähmende Aspekt an der UNO.
Besser wäre ein System, bei dem die Generalversammlung – so fehlerhaft sie auch sein möge – tatsächlich über einen rechtlich vollstreckbaren Auftrag verfügte. Wenn man sich nämlich die Entscheidungen der Generalversammlung über den Lauf der Jahrzehnte ansieht, waren sie eigentlich sehr, sehr gut:
Die Welt wäre ein viel besserer Ort, wenn wir uns davon leiten liessen und nicht von den Vetos der Großmächte!
Was ich damit sagen möchte: Ich glaube nicht, dass wir allzu weit von der Vision dessen entfernt sind, was wir erreichen könnten. Selbstverständlich gab es gerade den Gipfel der Zukunft bei den Vereinten Nationen, der viele sehr gute Ideen für eine UN-Reform hervorbrachte, sodass wir das reformieren können, was wir schon haben. Denn, ich denke, die Idee eines internationales Ordnungssystems, welches auf Frieden, nachhaltiger Entwicklung und Menschenrechten aufbaut, ist wirklich gut und klug und scheint nicht so weit von der Umsetzung entfernt, außer dass wir meiner Meinung nach versuchen müssten, meinen ehemaligen Schülern, Freunden, Kollegen und Lehrern in Washington zu helfen, um die Realität zu erkennen:
Damit diese verstehen, dass wir uns in einer anderen Welt befinden und dass wir keinerlei Führung durch die USA benötigen. Was wir brauchen, ist Anstandsgefühl und Zusammenarbeit.
Das ist alles. Ich wollte mich zunächst für die Frage bedanken, um im Anschluss zu beginnen.
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Teil 2 – Jeffrey Sachs beantwortet Fragen: Hier
Teil 2 – Jeffrey Sachs in Cambridge: „Atomkrieg hat für uns alle rote Linie zu sein!“
Übersetzung und Transkript-Erstellung: UNSER-MITTELEUROPA
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