Der „gute Russe“ im Exil klammert sich an russophobe Parallelwelt

Die Wirklichkeitskonstruktion der russischen Opposition im Westen übertrifft sich in ihren fiebrigen Forderungen jedes Jahr mehr. Mittlerweile geht diese absurde Puppenkiste so weit, dass ihre westlichen Gönner sich vor Renditenmangel zu entfremden drohen.

Elem Chintsky

Ja, es gibt das World Economic Forum, in dem sich die größten liberal-globalistischen Entscheider aus ihren verdunkelten Freimaurerlogen heraustrauen, um im perlweißen Schnee von Davos wühlend hochmütig das Schicksal der Welt zu bestimmen. Es gibt auch das ansehnliche G7-Treffen, bei dem die absolute Auslese westlicher Wirtschaftsfinesse in ungeahnte diplomatische und staatsverschuldende Höhen emporsteigt. Auch haben viele von der jährlichen UN-Sicherheitskonferenz im September gehört, die die Vertreter aller Nationen der Erde bündelt, um Kriegen und Konflikten leistungsstarke Lippenbekenntnisse entgegenzusetzen. Aber all diese Foren wirken altbacken, unbeholfen, ja kleingeistig im direkten Vergleich zu dem, was am 4. und 5. Oktober 2024 in einem baltischen Land, das sogar EU- und NATO-Mitglied ist, vonstattengehen durfte: das 13. Forum Freies Russland.

Es wurde im Jahr 2016 vom sowjetisch-russischen, heute auch kroatischen (seit 2014) Schachweltmeister Garri Kasparow im litauischen Vilnius gegründet und dient seither als regionale Bühne für die Eingeschnapptheit der russischen Dissidenten, die um nichts auf der Welt dem Rätsel auf die Spur kommen, weshalb der absolute Großteil der russischen Gesellschaft sie nicht unterstützen möchte – und sie deshalb bei ihrem Aktivismus so stark abhängig sind von westlichen Almosen. Michail Chodorkowskis „Offenes Russland“ mischt bei diesem verzerrten politischen Ponyhof des Forums Freies Russland auch oft mit. Den eigenen bisherigen Misserfolg innerhalb des russischen Volkes führen sie unter anderem darauf zurück, dass „25 Prozent der Russen Faschisten sind“.

Die Almosen sind entscheidend, denn diese werden mit jedem Kalenderjahr weniger. Das bedeutet, dass Konflikte innerhalb dieser Clique entstehen – interne Streitigkeiten, die die Frage schlichten sollen, wer das noch zugängliche Budget aus dem Westen überhaupt überwiesen bekommen darf. Aktuellstes Beispiel dieser von Geldgier getriebenen Farce sind die Anschuldigungen des russischen Oppositionellen Maxim Jewgenjewitsch Katz, der die FBK, also die von Alexei Nawalny gegründete Stiftung für Korruptionsbekämpfung (zu Russisch: Фонд борьбы с коррупцией – ФБК) der systematischen Korruption beschuldigt. Konkret gehe es um große Summen Geld, die Nawalnys FBK von westlichen Gönnern erhielt und hinter den Kulissen jahrelang veruntreute. Katz möchte perspektivisch gerne ein größeres Stück von diesem NGO-Kuchen sichern, indem er oppositionelle Kollegen aus derselben Domäne – also auch die heutigen Verwalter von Nawalnys Aktivisten-Erbe – anschwärzt. Diese Art Zank ist natürlich pures Gold für den Kreml, der einfach zuschauen kann, wie all diese Staatsverräter im goldenen Westen durch eigenen kurzsichtigen Fleiß ihre Glaubwürdigkeit bei den noch übrig gebliebenen interessierten Bürgern Russlands verlieren. Es gibt keinen Bedarf für irgendwelche proaktiven, kapitalintensiven, psychologischen Operationen des russischen Geheimdienstes FSB – die Dissidenten nehmen Moskau diesbezüglich gänzlich die Arbeit ab.

Katz gilt in Russland gerichtlich als „ausländischer Agent“ und wurde 2023 in Abwesenheit zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Ein Jahr zuvor, um den Beginn der militärischen Sonderoperation herum, hatte er hastig und in weiser Voraussicht Russland verlassen.

Ein weiteres moralisches Projekt dieser besseren Russen: Die Nationalhymne und das Wappen Russlands gehören als „Symbole der Schande“ abgeschafft. Die Ausstellung eines „Reisepasses eines guten Russen“ wird auch als Anbiederung an den Westen benutzt, um sich von „Putins Russland“ noch weiter zu distanzieren. Auch die drei Farben der russischen Flagge – die sogenannte Trikolore – müssten radikal reformiert werden: In fast jeder Edition des Forums wird gefordert, eine neue Nationalflagge zu etablieren. Ohne den roten Streifen, denn dieser stehe selbstredend für das unbarmherzig und autoritär vergossene Blut. All dies seien geplante Zeichen – gesetzt, um dem neuen „freien Russland“ zu einer Loslösung von der putinistisch-imperialistischen Vergangenheit zu verhelfen.

„Wir haben bereits unsere eigene Flagge“, wird mutig ausgerufen – weiß-blau-weiß. Nun gehört noch ein weißer Davidstern in die Mitte, und man hat schon fast wieder eine invertierte Israel-Flagge. Das würde dann auch zu der bedingungslosen Unterstützung passen, die das ach so freidenkerische Forum Freies Russland dem Staat Israel und all seinen „Abenteuern“ gewährt. Böse Zungen, die mit diesem Artikel nichts zu tun haben, könnten sogar behaupten, dass dieser sensible Umstand tatsächlich helfen könnte zu ermitteln, wer da sonst noch gerne diesen unzufriedenen Exilrussen aus dem Ausland halbleere Finanzspritzen zuwirft.

„Ich kann nicht in einem Land leben, das mit seinen Nachbarn Krieg führt“, heißt es oft bedeutungsschwanger unter den oppositionellen Lamentierern, die dem gesamten historischen Kontext der militärischen Sonderoperation gegenüber bereitwillig ignorant sind. Dann hört man jedoch, dass diese empörten und tief empfindenden Dissidenten oftmals ausgerechnet in die westliche und einzige Demokratie im Nahen Osten namens Israel auswandern (wie der zuvor bereits erwähnte Katz übrigens). Ein Land, das mit seiner „humanitärsten Armee der Welt“ beileibe nicht dafür bekannt ist, mit seinen Nachbarn irgendwelche Kriege zu führen, nicht wahr? Selbstverständlich kommt als Konter das durch keinen Umstand eingeschränkte Recht Israels auf Selbstverteidigung und Genozid staatenloser und enteigneter Palästinenser.

„Es ist absolut wichtig, den Krieg nicht nur nach Brjansk und Kursk zu bringen, sondern besonders nach Weißrussland“ – so selbstsicher argumentiert seine militärische Strategie, Russland in die Knie zu zwingen, ein weiterer Forumsgast sowie Abgeordneter der ukrainischen Werchowna Rada.

Ein litauischer Abgeordneter, der ebenfalls geladen war, rief Folgendes aus – nicht ganz, ohne einen Vorwurf an Onkel Sam mit anzuheften: „Wir als Litauer setzen unsere Hoffnung nicht auf die USA. Wir hoffen auf unsere Nachbarn: Uns werden die Finnen helfen, uns werden die Schweden helfen, uns werden die Polen helfen. Die US-Amerikaner können bei sich in Kalifornien weiter ihren Latte trinken.“ Gut, dass Helsinki und Stockholm erst kürzlich von der demokratischen Gravitation des Schwarzen Lochs namens NATO hineingezogen wurden. Zufälle gibt es.

Diesen wiederkehrenden Frust über einen allzu reservierten und beschwichtigenden Westen formuliert Kasparow so: „Biden, Scholz, Macron und Keir Starmer – was ist das, wenn nicht eine Ansammlung politischer Impotenter? Die besprechen werden, wie man am besten einen Teil der Ukraine Putin überlässt?“

Trotzige Polemik, die begeistert. Es ist eine rührende Illustration dessen, wie man die Hand beißt, die einen füttert. Nur ob diese Art rhetorische Rochade Kasparows wirklich die erhofften langfristigen Erfolge zeitigt, bleibt selbst für rationale und neutrale Beobachter ausgesprochen fraglich.

Litauen als Gründungsheimat von Kasparows Forum will wirken wie das gallische Dorf Goscinnys und Uderzos, das sich dem Römischen beziehungsweise Russischen Imperium trotzig entgegenstellt. Nur gibt es hier nicht einen druidischen Zaubertrank, der den Subjekten zeitweise ungeahnte Körperkräfte verleiht – hier nimmt man eher vorlieb mit dem sicherlich auch prickelnden, aber wirkungslosen Cocktail aus kognitiver Dissonanz, Logik peinigender Megalomanie und einer Prise irrationalem Hass.

Wie eine moderne psychotherapeutische Sitzung (voller Patienten, jedoch ohne Therapeuten), in der man einander für die ausufernde Realitätsferne gratuliert, statt sie in Schach zu halten, lautet das alles überwölbende Motto und Ziel von Kasparows Forum: „Der Sieg der Ukraine und die Freiheit für Russland“.

Apropos Sieg: Auf dem Forum selbst ertönten auch widerwillig faktentreue Stimmen, die sich nicht ganz der Wirklichkeit verweigern konnten – prowestliche Experten, die unfreiwillig eingestanden haben, dass – entgegen der innigen Hoffnungen der Dissidenten-Community – das heutige Russland unter Putins Präsidentschaft alles andere als am Abgrund steht. Die westlichen Sanktionen führten dazu, dass Russland das mit Abstand kleinste Haushaltsdefizit der industrialisierten Länder (besonders im Vergleich mit dem Westen) aufweist und ein dramatisches Sinken der Arbeitslosenzahlen erlebt. Es wird sogar daran erinnert, dass allein im Jahr 2023 in Moskau 14 unterirdische Metrostationen und 70 oberirdische Metrostationen gebaut und in Betrieb genommen wurden. „Wenn man diese neu erbaute Streckenlänge insgesamt nimmt, handelt es sich um ein Drittel des gesamten Berliner U-Bahnnetzes und die Hälfte der Berliner S-Bahn“, hieß es weiter.

Was für eine süße Ironie, dass sich die russischsprachigen Lakaien des Westens, getarnt als „authentische russische Opposition im Exil“, unter der Führung Kasparows mit ihrem größenwahnsinnigen sowie blutrünstigen Wunschkonzert selbst Schachmatt setzen.

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Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.

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