Die französische Kolonialkrise erinnert an den Zusammenbruch der UdSSR

Von Walerija Werbinina

Seit einiger Zeit tauchen in den internationalen Nachrichten auch Regionen auf, die früher kaum erwähnt wurden. Es handelt sich um die Überbleibsel der ehemaligen Kolonien Frankreichs, die als überseeische Departements und Territorien mit Sonderstatus noch immer Teil des französischen Staates sind. Sie liegen so weit von der Metropole entfernt, dass der Kreisstadtpolizeichef aus Gogols Komödie wahrscheinlich sagen würde, man benötige drei Jahre, um dorthin zu gelangen. Nun sind diese Regionen zu einer Problemquelle für die französischen Regierungsstellen geworden.

Offensichtlich haben die COVID-Pandemie und die darauffolgende Wirtschaftskrise alle Widersprüche in der Gesellschaft verschärft, und Risse gibt es immer dort, wo es eine dünne Stelle gibt. Die ehemaligen Kolonien erwiesen sich als ein solcher Schwachpunkt, zumal die Franzosen – um die Dinge beim Namen zu nennen – historisch gesehen nicht die besten Kolonisatoren und dann Mitbürger für die einheimische Bevölkerung waren.

In einem Paradies wie Französisch-Polynesien führten sie Dutzende von Nukleartests durch, in Martinique und Guadeloupe wurde das andernorts verbotene, krebserregende Pestizid Chlordecon eingesetzt und auf La Réunion verwendeten sie das ebenfalls krebserregende Herbizid Glyphosat. Im Jahr 2023 wurde die Genehmigung für den Einsatz von Glyphosat um zehn Jahre verlängert, obwohl Präsident Macron bereits 2017 versprochen hatte, dessen Einsatz zu verbieten.

"Die Konzentration von Glyphosat im Trinkwasser (auf der Insel La Réunion) ist 20- bis 30-mal höher als die WHO-Grenzwerte", empören sich lokale Aktivisten. "Das ist sehr schlimm, es handelt sich eindeutig um ein Verbrechen, denn Menschen sterben, Kinder werden krank, bevor sie geboren werden, und die Zahl der Krebskranken steigt."

Doch nicht nur die in der Landwirtschaft eingesetzten Chemikalien sorgten für Unzufriedenheit. Neukaledonien, das über erhebliche Nickelreserven verfügt, strebt seit langem die Unabhängigkeit an. Frankreich schaffte es jedoch, die Angelegenheit auf seine bevorzugte bürokratische Art und Weise zu vereiteln: Zunächst verzögerte es den Prozess so lange wie möglich, dann erzwang es drei aufeinanderfolgende Referenden, und das dritte Referendum wurde mitten in der Covid-Pandemie organisiert, sodass nicht alle daran teilnehmen konnten.

Letztlich wurden die Ergebnisse von den lokalen Unabhängigkeitsbefürwortern nicht akzeptiert, aber aus Sicht der französischen Regierungsstellen ist alles absolut legal, und Neukaledonien mit seinen Nickelvorkommen und einer großen Militärbasis (auf der 1.500 Militärs stationiert sind) ist nun für immer ein französisches Gebiet. Im Mai brachen anlässlich des neuen Gesetzes über Kommunalwahlen Unruhen auf der Insel aus — natürlich verbunden mit Plünderungen und Brandstiftung. Mehrere Menschen starben, Hunderte wurden verletzt, der Schaden belief sich auf mehr als zwei Milliarden Euro. Die Behörden verhängten eine Ausgangssperre von 22.00 Uhr bis 5.00 Uhr morgens, verboten das Waffentragen für Zivilisten und jegliche Demonstrationen. Doch die Unruhen ließen nicht nach und die Behörden mussten zu radikalen Maßnahmen greifen.

Bis zum 3. November ist der Alkoholverkauf außerhalb von Bars und Restaurants auf der Insel verboten, ebenso wie der Verkauf von brennbaren Flüssigkeiten (da diese für Brandstiftung und Molotow-Cocktails verwendet werden). Die Ausgangssperre wurde bis zum 4. November verlängert. Die Gendarmerie patrouilliert auf den Straßen und die Polizei setzt Drohnen zur Überwachung der Ordnung ein.

Die Führer der Unabhängigkeitsbewegung wurden verhaftet und zum Gerichtsprozess in die Metropole gebracht.

So wie Pawel Durow wegen Straftaten angeklagt wurde, bei denen Telegram von anderen in irgendeiner Weise genutzt wurde, wurden die Unabhängigkeitsbefürworter wegen der während der Unruhen begangenen Raubüberfälle und Morde angeklagt. Aus Sicht der Zentralbehörden ist dies eine Win-Win-Situation: Erstens müssen die Angeklagten viel Zeit aufwenden, um ihre Unschuld zu beweisen, und zweitens können sie in dieser Zeit keine politischen Aktivitäten ausüben. Die eigentlichen Auslöser der Unruhen, nämlich Armut und Entmündigung, bleiben jedoch bestehen.

Unabhängig davon, wie viel Nickel es auf dem Archipel gibt, alle Einnahmen daraus fließen in die richtigen Taschen, und die einheimische Bevölkerung kann nur mit einem Job als Fabrikarbeiter oder als Angestellter im Dienstleistungssektor rechnen. In der Theorie herrscht natürlich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, aber in der Realität ändert sich das Bild seit den Kolonialzeiten kaum: Es gibt Herren, meist Weiße, die alles und alle anderen beherrschen. Und wenn Jean-Jacques Brault, ehemaliger Republikvertreter in Neukaledonien, anmerkt, dass "das Geschehen Ähnlichkeiten mit dem Entkolonialisierungskonflikt aufweist", hat er im Großen und Ganzen Recht. Nur sollte man statt des gekünstelten Begriffs "Entkolonialisierung" den Begriff "antikolonial" verwenden, der den Kern des Problems besser wiedergibt.

Während Neukaledonien über enorme Nickelvorkommen verfügt, sind die anderen französischen Überseegebiete in dieser Hinsicht weniger attraktiv und vor allem durch ihre Landwirtschaft und Tourismusaktivitäten von Bedeutung. Infolgedessen traf der allgemeine Wirtschaftsabschwung diese Regionen härter als die Metropole.

Gleichzeitig wurden einige merkwürdige Details aufgedeckt, z. B. dass in Martinique und Guadeloupe Lebensmittel und viele Waren 40 Prozent teurer sind als im europäischen Teil Frankreichs.

Die Einfuhr von billigen Lebensmitteln aus den Nachbarländern ist verboten, denn wo sollen die französischen Produzenten dann noch Profit machen? Selbstverständlich entspricht das alles den gesetzlichen Bestimmungen: Die Lebensmittel müssen den in Frankreich geltenden Normen entsprechen, und alles geschehe ausschließlich aus Sorge um die Verbraucher. Die Bevölkerung war jedoch nicht erfreut über diese Sorge und es kam zu Protesten, Straßenblockaden, Raubüberfällen und Brandstiftungen.

Zusätzlichen Zündstoff lieferte der Stromausfall in Guadeloupe am 25. Oktober, als der Strom komplett ausfiel. Trotz einer Ausgangssperre wurden Geschäfte und Juwelierläden ausgeraubt — nach Angaben der Einheimischen nur in den ärmeren Gegenden, während wohlhabende Wohnviertel bereits im Vorfeld gesichert wurden.

Das Problem der hohen Preise wurde von den französischen Regierungsstellen erkannt. Es wurde vorgeschlagen, die Mehrwertsteuer auf einige wesentliche Güter abzuschaffen, um die Preise langfristig um 20 Prozent zu senken. Obwohl das Gesetz erst von den zuständigen Instanzen geprüft werden soll, steht schon jetzt fest, dass die Mehrwertsteuer künftig auf diejenigen Warenkategorien erhoben wird, die bisher in den überseeischen Departements von der Mehrwertsteuer befreit waren.

Noch interessanter als die Winkelzüge der Regierungsstellen ist jedoch die Reaktion der Mitbürger im europäischen Teil Frankreichs auf das Geschehen. Während in den Kommentaren von Bürgern über das nickelreiche Neukaledonien zu lesen ist: "Sie sollen selbst für ihre Verluste aufkommen. Warum sollten wir das mit unseren Steuern bezahlen?", ist die Haltung gegenüber den ärmeren überseeischen Departements wesentlich schärfer.

"Gebt ihnen die Unabhängigkeit und lasst sie ein zweites Haiti werden", ist das Leitmotiv. Immer wieder wird suggeriert, dass Frankreich diese Gebiete nicht mehr braucht, weil sie eine Last sind und es sich nicht lohnt, sie finanziell zu unterstützen. Zwar leben dort die gleichen Franzosen wie in Paris, Bordeaux oder Arles, aber von ihren europäischen Mitbürgern werden sie schon anders wahrgenommen: als Fremde, und zwar als feindliche Fremde (worauf die Formulierung hindeutet, sie sollten das Schicksal eines völlig verarmten Haiti erleben).

Etwas Ähnliches war in der UdSSR am Vorabend ihres Zusammenbruchs zu beobachten: gegenseitige Abneigung der Peripherie und des Zentrums, Betrachtung ganzer Territorien und ihrer Bewohner als Belastung sowie ähnliche Diskussionen darüber, wer wen in welchem Umfang finanziell unterstützt. Solche gesellschaftlichen Stimmungen entstehen nur in Momenten der Krise des Machtsystems, das seine Aufgaben nicht mehr bewältigen kann.

Verschärft sich die Krise und überschreitet sie den Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, kann der Traum derjenigen, die Frankreich ohne Überseegebiete sehen wollen, in Erfüllung gehen. Mehr noch, denn auf Korsika und in der Bretagne herrschen starke separatistische Tendenzen, wobei die Bretagne eigentlich zu Europa gehört.

Das erklärt, warum Macron und seine Nachfolger verhindern wollen, dass auch nur ein Gebiet Frankreich verlässt: Wenn sich eines von Frankreich trennt, werden alle anderen ihm folgen. In der westlichen Politik ist die Entkolonialisierung eine ausschließlich für den Export bestimmte "Ware", die der Westen selbst nicht nutzen will. Den Verlust von Territorien und Menschen sollen andere hinnehmen.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 1. November 2024 zuerst auf der Seite der Zeitung Wsgljad erschienen.

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