Von Dagmar Henn
Eigentlich mag man über diese Geschichten gar nicht mehr schreiben. Weil irgendwie allmählich alles, was in Deutschland nicht funktioniert, Russlands Schuld ist. Wahrscheinlich selbst das Wetter zu Weihnachten ‒ wenn zu viel Schnee liegt und es darum zu Staus kommt, oder wenn keiner liegt und alles jammert, weil es keine weißen Weihnachten wurden, mit Sicherheit war dann mal wieder Putin schuld.
Wobei man ehrlicherweise sagen muss, dass die Behauptungen, der DHL-Flieger, der beim Anflug auf Vilnius havariert hat, sei ein Opfer russischer Sabotage gewesen, bereits wieder etwas tiefer gehängt werden. Nur, so funktioniert eine derartige Propaganda: Die Behauptung ist erst einmal im Gedächtnis gespeichert. Wenn dann später erklärt werden muss, dass das alles Unfug war, ist das Thema schon aus den Schlagzeilen verschwunden, sodass es die Behauptung ist, die überlebt.
Übrigens muss man Bundeswehr-Generalinspekteur Carsten Breuer in diesem Zusammenhang fast in Schutz nehmen. Die Aussage, die er bei Maischberger getroffen haben soll, war ihm zuvor von der Moderatorin in den Mund gelegt worden.
Nicht, dass Breuer ein Musterbeispiel für Vernunft wäre. Davor hatte er noch erklärt: "Putin sieht diesen Krieg als einen Krieg gegen das westliche System, weil das westliche System ein attraktives System ist." Eine Aussage, die ein weniger handverlesenes deutsches Publikum jederzeit in Lachkrämpfe hätte versetzen können. Sollte Breuer das bezweifeln, ließe sich das durch ein Abspielen dieses Satzes in einem beliebigen Zug der Bahn AG jederzeit überprüfen.
Aber dennoch, von sich aus hätte er die Sprache vermutlich nicht auf diesen Absturz bei Vilnius gebracht. Es war Maischberger, die den DHL-Flieger ins Spiel brachte:
"Nicht dass ich spekulieren will, aber die Bilder sind natürlich beunruhigend gewesen, die uns gestern erreicht haben, aus Vilnius, das ist ein DHL-Frachtflugzeug, in Leipzig gestartet, dort eben zerschellt, das ist deshalb beunruhigend, weil es eben im Juli schon einen Brand gab bei einem Luftfrachtpaket DHL Leipzig. Annalena Baerbock möchte deshalb Sabotage nicht ausschließen. Kann es sein, dass es trotzdem auch Tests gibt, der Test zum Beispiel eben der Schwachstellen?"
Rekapitulieren wir die Fakten. Zu dem in Leipzig in Brand geratenen Paket heißt es immer noch ‒ nach fünf Monaten ‒ etwa in der Welt:
"Dort soll im Juli ein aus dem Baltikum verschicktes Paket Feuer gefangen haben, das einen Brandsatz enthielt."
Wenn an der entscheidenden Stelle dieses Satzes immer noch "soll" steht, und nicht "hat", kann man ebenso gut schreiben: "Nix Genaues weiß man nicht". Und es ist nicht ganz unwichtig, vielleicht zu erwähnen, wie viele Pakete DHL im Jahr befördert. Im Jahr 2023 waren das 1,731 Milliarden. Zur Luftfracht gibt es keine Zahl der Pakete, aber eine Gesamttonnage: In Europa waren es 5,9 Millionen Tonnen. Wir sprechen von einem Paket, und es ist noch nicht einmal belegt oder abschließend festgestellt, ob dieses Paket tatsächlich einen Brand ausgelöst hat, und erst recht nicht, warum.
Dafür ist eine ganze Reihe von Möglichkeiten denkbar. Die in vielen Geräten allgegenwärtigen Akkus beispielsweise können gelegentlich in Brand geraten, egal, ob sie in einem Handy, einem Laptop oder einem Elektroscooter stecken. Sie tun es auch in Elektroautos, und manchmal versenkt so etwas ganze Schiffe, ohne dass das irgendetwas mit Sabotage zu tun hätte. (Ganz anders als bei diesen Pager-Explosionen im Libanon im Sommer, aber bisher war hier weder von israelischen Elektronikprodukten noch vom Mossad die Rede.)
Jetzt wird also aus dem Unfall eines Frachtflugzeugs bei Vilnius eine Fortsetzung der vermeintlichen Paket-Sabotage gestrickt. Breuer versucht übrigens, das Ganze ein wenig auf eine Art Psychokrieg-Schiene abzulenken. Auch Unsinn, aber es belegt, dass ihm nicht so ganz wohl war bei der Behauptung, die Maischberger in den Raum gestellt hat:
"Die Tatsache, dass wir jetzt über den Absturz des DHL-Fliegers in Vilnius diskutieren, zeigt schon, dass wir genau in dieser Spur schon sind, was auch völlig richtig und völlig erklärlich ist, denn, so wie Sie gesagt haben, wir haben auch schon im Sommer dieses Jahres eine ähnliche Situation erlebt, und jetzt ist dort etwas passiert, was irgendwo in dieses Muster mit hineinpasst. Das, was Putin erzeugt, ist ein Zustand, diesen hybriden Zustand, ein Zustand, der nicht mehr ganz Frieden, aber auch noch nicht ganz Krieg ist."
Genaugenommen lässt er es im Unklaren, ob nun der vermeintliche Angriff in einem Eingriff in die DHL-Fracht oder nicht vielmehr in der Erzeugung einer Stimmung besteht, in der solche Gedanken möglich sind. Wobei jeder Beobachter der Entwicklung in Deutschland nachvollziehen kann, dass diese Stimmung, hinter allem Putins unsichtbare Hand zu vermuten, eine deutsche Eigenzüchtung ist, an der solche wie Maischberger eifrigst mitgewirkt haben.
Es hat Breuer aber nichts genützt, so unscharf zu bleiben, denn in den Presseberichten wurde dann nur der Satz zitiert: "Wir haben auch schon im Sommer dieses Jahres...". Was die in Breuers Aussage durchaus vorhandene Ambivalenz eliminiert.
Die Medienvertreter benehmen sich in der ganzen Geschichte ohnehin so, als litten sie unter einem akuten paranoiden Schub. Das ZDF hat auch gleich gefragt, ob "Russland hinter dem Anschlag" stecke, und Bundeskanzler Olaf Scholz antwortete dann ganz brav, "es könnte so sein". Dabei ist bereits die Klassifizierung als "Anschlag" durch nichts begründet.
Im Gegenteil. Interessanterweise sagen selbst die litauischen Behörden, es handele sich höchstwahrscheinlich um einen Unfall. Es handelte sich um ein 31 Jahre altes Boeing-Flugzeug, betrieben von einer spanischen Gesellschaft, die für DHL fliegt (was mit hoher Wahrscheinlichkeit geschieht, um Kosten einzusparen, mit allen damit möglicherweise verbundenen Folgen), und inzwischen veröffentlichte Analysen des Funkverkehrs zwischen Flugzeug und Tower legen nahe, dass es einen Kommunikationsfehler gab (und ja, es hat einen Hauch von verkehrter Welt, wenn die Bild eine solche Analyse veröffentlicht, und die öffentlich-rechtlichen Sender hinter jedem Baum den bösen Russen vermuten).
Andernorts findet man auch diese Information: "An den Ermittlungen zur Absturzursache werden sich nach litauischen Angaben auch vier Experten aus Deutschland, zwei aus Spanien und zwölf aus den USA beteiligen, darunter fünf vom Flugzeughersteller Boeing."
Hier sind gleich zwei interessante Details enthalten. Die Besatzung des Flugzeugs bestand aus zwei Spaniern (von denen einer ums Leben kam), einem Deutschen und einem Litauer. Das erklärt die deutschen und spanischen Experten (die Litauer betreiben die Ermittlung ohnehin). Auch die fünf Mitarbeiter von Boeing sind zwar in ihrer Menge auffällig, aber das lässt sich dadurch erklären, dass jeder Absturz einer Boeing-Maschine bei der Firma inzwischen Panik auslöst, die seit herausfallenden Türen und ähnlichen Vorfällen inzwischen schwer um Ruf und Marktanteile kämpft.
Aber wer sind die übrigen sieben US-Amerikaner? Was geht sie dieser Absturz an? Die einzige Verbindung, die denkbar wäre, wäre über die Fracht. Was dann eine ganz andere Option ins Spiel bringt, auf die die braven deutschen Medien so gar nicht kommen ‒ was, wenn diese Fracht nicht so ganz legal war, zumindest nicht für ein ziviles Frachtflugzeug, und die Aufgabe dieser sieben darin besteht, genau dies verborgen zu halten? (Wobei, nach den Aufnahmen des brennenden Flugzeugs kann man zumindest illegale Munitionstransporte ausschließen, weil es keine Sekundärexplosionen gab.)
Sicher, der banale Absturz eines Frachtfliegers gibt eben nicht viel her, bestenfalls eine kurze Meldung. Und die Versuchung, daraus mehr Honig zu saugen, ist groß. Allerdings hätten so viele Varianten näher gelegen... Boeing, die Billiglinie mit vielleicht schlechter Wartung, Kommunikationsprobleme oder schlicht das erhöhte Frachtaufkommen im Anlauf zu Weihnachten. Nein, es war der Russe.
Besonders sicher ist sich wieder einmal Roderich Kiesewetter. Dessen Aussage muss man wirklich in ihrer ganzen Schönheit genießen:
"Die Untersuchungen müssen noch abgewartet werden. Eine Herausforderung bei Sabotage ist die sehr schwierige Zuordnung beziehungsweise Attribuierung. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass es kein Unfall war, ist auch angesichts der Ereignisse mit DHL im August und den Warnungen der Nachrichtendienste im Oktober sehr hoch und würde genau in die Strategie Russlands passen: Terror und Verunsicherung zu verbreiten und Logistikwege auch militärisch anzugreifen. Dann dient es nicht nur der Angst und Verunsicherung, sondern hat auch einen militärisch vorbereitenden Zweck."
Interessant ist an dieser Aussage eigentlich nur, dass die Kombination aus seiner Verknüpfung von DHL und Militärlogistik zusammen mit den sieben Amerikanern vielleicht doch eine gewisse Versuchung erzeugt, Genaueres über die transportierten Güter herauszufinden. Wobei es noch ein weiteres, wenn auch nicht sehr starkes Indiz gibt: dass die litauische Polizei Anwohner aufgefordert hat, Aufnahmen von im Flugzeug transportierten Paketen nicht ins Netz zu stellen, sondern nur auf ihre Seite hochzuladen. Aber, ehrlich gesagt, alles miteinander ist immer noch relativ schwach ‒ wenn auch besser begründet als die "russische Sabotage".
Nein, das Schöne an Kiesewetters Aussage ist, dass sich der Aufbau so schön nachverfolgen lässt. Erst verschafft er sich den Raum für völlig wildes Spekulieren, indem er behauptet, man könne bei Sabotage nur schwer wissen, wer dafür verantwortlich war. Dann greift er die "soll haben"-Nummer in Leipzig auf, und die (selbst schon propagandistisch veranlasste) Warnung, die im August der Verfassungsschutz daraus bastelte (man muss ja sein Budget sichern). Der nächste Schritt ist dann der ‒ durch nichts begründete ‒ Sprung auf eine vermeintliche russische Strategie, "Terror und Verunsicherung" zu verbreiten und "Logistikwege auch militärisch anzugreifen". Wobei er von der Ukraine auf Deutschland und von militärischer auf Logistik überhaupt erweitert. Denn die Vernichtung von Weihnachtspäckchen erfüllt nun einmal keinen militärischen Zweck.
Der eigentliche Ursprung von "Terror und Verunsicherung" ist, das belegt auch die Darstellung dieser Flugzeughavarie, die finstere Geschichte, die daraus gesponnen wird. Was natürlich auf eine jahrelange Dressur zurückgreifen kann, die seit 2001 im Zusammenhang mit Flugzeugen vollzogen wurde, seit jedes Flüssigkeitsbehältnis als Gefährdung gilt und selbst der Transport von gewöhnlichen Feuerzeugen zum Problem wurde. Davor, das nur für die Jüngeren unter uns, konnte man in innereuropäische Flüge einfach einsteigen. Wenn man nur Handgepäck dabei hatte, reichte es, eine halbe Stunde vor dem Flug da zu sein, und eine Literflasche Cola für unterwegs war auch kein Ding. Fliegen war damals einfacher und zuverlässiger, als es heutzutage das Bahnfahren ist. Und man hat auch nicht ganze Flugzeuge leergeräumt, weil zu einem eingecheckten Koffer kein Passagier kam.
In Wirklichkeit ist da heute nicht mehr Gefahr als im Jahr 2000, sofern man nicht in ein neues Flugzeug von Boeing steigt. Aber wenn man Leute kriegswillig schwatzen und schreiben will, dann braucht man diese ständige Angst vor dem bösen Feind, und ein verunglücktes Frachtflugzeug ist da geradezu ein Geschenk des Himmels. Man würde aber auch eine kaputte Straßenbahn nehmen, oder einen Stromausfall.
Gerüchten zufolge soll dieser Zustand übrigens therapierbar sein. Nur leider fehlt den Betroffenen die dafür erforderliche Einsicht.
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