Deutschland: Studie warnt vor "Wohnarmut", Tafeln müssen Lebensmittel rationieren

Die Forschungsstelle des Paritätischen Gesamtverbands hat nach Auswertung von Daten des Statistischen Bundesamts eine laut Pressemitteilung "bahnbrechende Berechnung zur Wohnarmut in Deutschland" veröffentlicht. Die Ergebnisse würden ein "alarmierendes Bild" abzeichnen, da laut den Daten bereits aktuell deutlich mehr Menschen als bisher angenommen in Armut leben, "wenn die Wohnkosten berücksichtigt werden", so der Verband. Parallel schlagen auch die bundesweiten Tafel-Betreiber in Deutschland Alarm.

Die stetig steigenden Mieten belasten dabei "überproportional" vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen. So wäre nachweislich eine hohe Armutsbetroffenheit "mit 31 Prozent sowohl bei den jungen Erwachsenen (18 bis unter 25 Jahre) als auch bei den älteren Menschen ab 65 Jahren (27,1 Prozent)" vorzufinden.

Viele Haushalte in Deutschland würden laut der Studie inzwischen mehr als ein Drittel ihres Einkommens für Wohnkosten ausgeben, "manche sogar mehr als die Hälfte", so die nüchternen Zahlenauswertungen. Von Wohnarmut sind daher "insgesamt 21,2 Prozent der Bevölkerung (17,5 Millionen Menschen)" betroffen.

Das wären laut dem Verband 5,4 Millionen mehr Armutsbetroffene als nach konventioneller Berechnung. Besonders hohe Wohnarmut gibt es laut der Studie "Wohnen macht arm" in Bremen (29,3 Prozent), Sachsen-Anhalt (28,6 Prozent) und Hamburg (26,8 Prozent). Die Hauptstadt Berlin (20,8 Prozent) belegt bundesweit Platz elf, gefolgt von Brandenburg (20,3 Prozent). In Baden-Württemberg (18,5 Prozent) und Bayern (16,3 Prozent) sind vergleichsweise weniger Menschen von Wohnarmut betroffen.

Zu der Aufschlüsselung nach Armutsgruppen lauten die Ergebnisse:

  • Menschen ab 65 Jahren: 27,1 Prozent Armutsquote
  • Junge Erwachsene (18-25 Jahre): 31 Prozent Armutsquote
  • Alleinerziehende: 36 Prozent Armutsquote
  • Alleinlebende: 37,6 Prozent Armutsquote (im Rentenalter sogar 41,7 Prozent)
  • Erwerbslose: 61,3 Prozent Armutsquote

Joachim Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, kommentiert die Auswertungen mit der Feststellung:

"Wohnen entwickelt sich mehr und mehr zum Armutstreiber. Die Schere geht durch die steigenden Wohnkosten immer weiter auseinander."

Der Verband resümiert zu der Studie:

"Wer nur Einkommen betrachtet, nicht aber, dass Menschen immer weniger Geld zur Verfügung haben, weil sie hohe Wohnkosten aufbringen müssen, übersieht das Ausmaß von Armut in Deutschland."

Der Schwellenwert liegt nach offiziellen Berechnungen der Definition von Armut für einen Ein-Personen-Haushalt bei 1.016 Euro frei verfügbares Einkommen im Monat. Alleinerziehende mit einem Kind unter 14 Jahren gelten entsprechend der Staffelung als arm, wenn sie weniger als 1.542 Euro monatlich zur Verfügung haben.

Andreas Steppuhn, Vorsitzender des in Berlin ansässigen Tafel-Dachverbandes, informiert laut einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ, Bezahlschranke) darüber, dass derzeit rund 60 Prozent der Tafeln in Deutschland nach Angaben des Verbandes die Ausgabe von Lebensmitteln regelmäßig reduzieren müssen.

Daher ergäbe sich die Notwendigkeit von "temporären Aufnahmestopps" oder vorliegenden "Wartelisten" für die bedürftigen Bürger. Steppuhn erklärt:

"Mit solchen Lösungen versuchen sich Tafeln über Wasser zu halten und gleichzeitig so vielen Menschen wie möglich zu helfen."

Zu den Gründen der Dynamik erklärt der Vorsitzende, dass die Lebenshaltungskosten in Deutschland in den letzten Jahren stetig gestiegen sind, parallel jedoch "Renten und Löhne aber nicht in gleichem Maß". Daher ergäbe sich das Problem der "teils deutlich gestiegenen Zahl an Bedürftigen". Aktuell würden "etwa 1,6 Millionen Armutsbetroffene" an den bundesweiten Tafeln versorgt. Ein weiterer Grund laute demnach:

"Seit dem Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine verzeichnen die Tafeln im bundesweiten Durchschnitt 50 Prozent mehr Kundinnen und Kunden."

Besonders betroffen seien vor allem die Tafeln auf dem Land, so Steppuhn: "Da gehen tatsächlich Tafeln die Lebensmittel aus, obwohl ja immer noch viele Lebensmittel vernichtet werden." Ein weiterer Grund laute, dass der Lebensmittelhandel seine Strategien gegen Lebensmittelverschwendung verbessert habe:

"Bei Supermärkten und Discountern bleiben weniger Lebensmittel übrig. Die Märkte bestellten nur noch das, was sie auch verkaufen können. Eine Tafel in einer Stadt kann viele Supermärkte anfahren. Im ländlichen Raum haben sie vielleicht zwei oder drei Supermärkte. Wenn also insgesamt die Menge an gespendeten Lebensmitteln zurückgeht, die übrig bleiben, dann merken Tafeln im ländlichen Raum das."

Der Tafel-Dachverband moniert: "Tafeln können nicht auffangen und übernehmen, was der Staat seit Jahrzehnten nicht schafft." Der Paritätische Wohlfahrtsverband wirft der Politik vor, dass sie seit Jahrzehnten andauernde Fehler in der Wohnungsbaupolitik nicht korrigiert habe. Diese Fehler hätten zu einem hohen Mangel an günstigen Sozialwohnungen und generellem bezahlbarem Wohnraum geführt.

Armutsbekämpfung erfordere vordergründig "eine Begrenzung der Wohnkosten". Daher müsse seitens der Politik "auf das bestehende Marktgeschehen stärker Einfluss genommen werden".

Die wirtschaftliche Lage in den deutschen Haushalten hat sich in den vergangenen Jahren kontinuierlich verschlechtert. Nach den jüngsten vorliegenden Zahlen mussten rund 14,2 Millionen Menschen im Jahr 2022 als arm bezeichnet werden. Alleinerziehende und Haushalte mit drei und mehr Kindern lebten demnach am häufigsten in Armut.

Mehr zum Thema ‒ Tag der Menschenrechte – Erhebliche Defizite in Deutschland

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