Wiedersehen mit Indien

Foto: Vera Bartholomay

Wenn eine große Reise beginnt, wird etwas sehr still in mir. Die vertrauten Alltagsgeräusche und Aufgaben fallen allmählich weg und ich stehe noch fast unbeweglich vor dem ersten Schritt ins Neue. Kostbares Nichts einatmen. Hinaustreten aus einer alten Welt. Hineingleiten in eine neue.

Diesmal allerdings nicht ganz neue Welt. Denn es ist bereits die vierte Indien-Reise und vieles ist vertraut. Allerdings wird es eine ganz andere Erfahrung sein, denn wir machen diese Reise vorwiegend, um in der Zeit rund um die Geburt unseres ersten Enkelkindes in New Delhi dabei zu sein und etwas zu unterstützen.

Und dennoch – diese magische Stille im Übergang lässt mich nicht unberührt.

Die letzten Monate boten reichlich praktischer und emotionaler Herausforderungen und haben an mir gezehrt. Wie kann ich mich bereit machen für den großen nächsten Schritt außer mit Stille? Auch wenn der Raum dafür diesmal nur sehr kurz ist.

Das Ankommen in Indien ist immer ein Schock

Erfahrene Indienreisende sagen oft, dass man sich gar nicht emotional auf Indien vorbereiten kann. Die Begegnung ist immer schockartig, auch wenn man schon oft dort war, so manches schon kennt und auch lieben gelernt hat.

Nach 9 Stunden Flug erreichen wir New Delhi. Schon am Flughafen begrüßt uns der Smog und der vertraute Geruch von verbrannter Luft. Staub der umgebenden Wüstenlandschaft. Rauch der unzähligen Holzfeuer, Abgase der vielen Fahrzeuge einer 25 Millionen Einwohner Metropole. Alles gepaart mit jetzt schon großer Hitze.

Der Weg in diesen Moloch einer Stadt hinein führt an Lagerstätten am Wegesrand vorbei – mehr als Pappe und alte Decken gibt es nicht als Schutz vor der Nacht. Auch an Armut gibt es Steigerungen. Überall Müllhaufen, Menschenmassen, Verkehrschaos.

Willkommen in Indien.

Zu heiß ist einfach zu heiß

Das Thermometer zeigt 38 Grad, die Hitze erschlägt uns fast und nach einer fast komplett schlaflosen Nacht im Flugzeug hängen wir erst einmal einige Tage in den Seilen, bevor wir Hitze und Zeitumstellung besser im Griff haben. Gottseidank wohnen wir wieder in der geräumigen und relativ ruhigen Wohnung von Sohn und indischer Schwiegertochter, sodass wir uns etwas aus der allzu bunten und lärmenden Welt zurückziehen können.

Bald finden in Indien Wahlen statt und es wird jetzt schon diskutiert, ob die Hitze darauf eine negative Einwirkung haben könnte, weil die Leute keine Lust haben, lange in der Hitze Schlange zu stehen. Jeder klagt, dass es doch früher nie so heiß wurde und erst recht nicht so früh im Jahr. Auch hier sind die Folgen des Klimawandels mehr als spürbar.

In einem nahegelegenen Club dürfen auch Nicht-Mitglieder das Schwimmbad für wenige Stunden am Tag benutzen. Ein Highlight – wenn auch zu europäischen Eintrittspreisen – sodass man sich denken kann, wer sich diesen Luxus gönnen darf. Hier treffen wir auf Kinder aus wohlhabenden Familien, die mit ihren Kindermädchen etwas Abkühlung finden. Wobei die Nannies nicht ins Wasser gehen, übrigens auch nur selten die Eltern. Schwimmen ist hier vorwiegend Kinderspaß, außer man nimmt es als Sport so richtig ernst und hat einen privaten Trainer dabei. Von denen es hier im Club reichlich gibt. Wenn Frauen im Wasser sind, sind es fast ausschließlich Ausländerinnen.

Haushaltsalltag

Draußen preist der Gemüsehändler seine Produkte lautstark an, der Milchmann radelt vorbei und ich freue mich, dass ich ihn wiedererkenne. Wie auch der Bügelmann und der Schuster auf dem Bürgersteig um die Ecke.

Die Haushaltshilfe ist schon fast Familienmitglied seit unserem letzten Aufenthalt. Wir tauschen Neuigkeiten aus den Familien aus und ich nehme mir auch diesmal vor, dieser begnadeten Köchin über die Schulter zu schauen, wenn sie ihre indischen Spezialitäten zubereitet. Worüber sie sich freut und wobei sich besonders wertgeschätzt fühlt. Und ich darf so richtig von der Pike auf lernen. Heute darf ich die Zubereitung von dem südindischen Gericht „Shahi paneer“ lernen, – mit indischer Schnittkäse, ganz viel Tomaten, Cashnewnüssen und einer ganzen Hand voll Knoblauch – schon der Name macht hungrig. Dieses Gericht ist Teil des südindischen Thali-Essens, wo eine Mischung aus Schalen mit unterschiedlichsten Soßen mit Reis, Naan und Papadums serviert wird. In der ganz korrekten Weise soll es auf Bananenblätter serviert und direkt auf den Blättern gemischt werden. Alles wird übrigens mit der Hand gegessen, nach Gabeln fragenden Westler werden mitleidig angeschaut.

Ich bin immer wieder beeindruckt von der Vielfalt der Gewürze – Senfsamen, Lorbeer, Zimtstangen, Kardamom, Nelken, Chilischoten, Kurkuma, Muskatnüsse… Oft werden sie nicht als Pulver, sondern in ganzer Form angebraten, und erst anschließend in der Soße püriert. Das Aroma ist unvergleichlich.

Wer hier nur ein wenig Geld übrig hat, beschäftigt andere. Ob im Haushalt, bei der Kinderbetreuung oder für Fahr- und Lieferdienste. Diese Lebensweise ist nicht zu vergleichen mit Menschen, die in Europa Dienstpersonal haben (wer hat das überhaupt schon?). In Indien wird es fast als Verpflichtung angesehen, jemanden einzustellen, denn die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch.

Service wird gross geschrieben. Was uns immer wieder zum Staunen bringt. Einige Beispiele: Bei der Ankunft erwähnen wir, dass wir ein paar Alltagskleinigkeiten brauchen. Europäisch denkend bedeutet dies, dass wir es auf unsere Einkaufsliste setzen für den nächsten Marktbesuch. Hier bedeutet es, dass unsere Gastgeber es sofort bestellen und 10 Minuten später (!!) steht alles vor der Tür – ohne Zusatzkosten durch die Lieferung.

Genauso werden die großen, schweren Behälter mit Trinkwasser geliefert – denn Wasser aus dem Hahn trinkt hier niemand.

Der Bügelmann kommt an die Tür und holt die zu bügelnde Wäsche ab, und bringt sie auch später wieder vorbei. 10 Teile kosten ca. 2 EUR inkl. Abholung und Lieferung. Wenn ich die Wäsche in Empfang nehme, schäme ich mich derart, dass ich ihm wesentlich mehr gebe und damit wahrscheinlich alle etablierten Systeme torpediere. Aber es gibt doch Grenzen…

Anderes ist hier allerdings so teuer wie in Europa – zum Beispiel explodiert der Immobilienmarkt und macht das Wohnen fast unerschwinglich für die allermeisten.

Riksha-Leidenschaft

Foto: Vera Bartholomay

Nach einigen Tagen wagen wir uns ins heiße und laute Getümmel hinaus und ich merke wieder einmal, es geht nur, indem man sich voll „hineingibt“ – um nicht gar „hingibt“ zu sagen – sich durch nichts irritieren lässt und alles wie ein Bad in Farben und Geräuschen betrachtet.

Ich LIEBE das Fahren mit den grün-gelben Motorrad-Rikshas. Sie sind überall vorhanden, lassen sich schnell heranwinken oder gar über Uber bestellen. Und für 50 Cent oder 1 Euro bringen sie mich fast überall hin. Darin geht es dann zwar ruppig zu (wozu braucht man eine Federung?), die meisten sind recht baufällig und sehr zerbeult, die Sitze sind meist zerrissen und dreckig. Die Fahrer sprechen meist kein Englisch (oder gerade mal die Zahlen). Wir verständigen uns in einem Kauderwelsch – keiner Sprache wirklich zugeordnet. Umso wichtiger, dass man wenigstens eine Ahnung hat, was die Fahrt kosten darf – sonst wird man aus Ausländer schnell ausgenommen. Von meiner Schwiegertochter lerne ich die abfällige Schulterbewegung, wenn man ein überhöhtes Preisangebot (die auch sie bekommt) ablehnt und sofort zu weiteren Fahrern weitergeht und neu verhandelt. Und irgendjemand stimmt irgendwann immer einem wirklichkeitsnahen Preis zu.

Unerträgliche Armut

Foto: Vera Bartholomay

Von einer Riksha aus kann man fast ungefiltert diese bunte Welt aufsaugen und überall kleine Details entdecken. Schöne und schreckliche. Denn die Armut zeigt sich hier alle paar Meter.

Herzzerreißend die vielen Obdachlosen überall. Ganze Familien, die sich unter Brücken und auf Verkehrsinseln eingerichtet haben. Dort wird gekocht, Wäsche gewaschen, geschlafen und gespielt. Eine der Grundregeln, die wir sofort mitgeteilt bekommen, besteht darin, keine bettelnden Kinder Geld zu geben. Sonst würden sie nicht mehr in die Schule geschickt werden, sondern würden für den Familienunterhalt eingesetzt.

Eines frühen Morgens gehe ich aber eine Straße lang und komme an einer obdachlosen Familie vorbei. Kleine, dreckige Kinder in zerrissenen Kleidern spielen auf alten Decken. Ein Mädchen schaut mich an, bettelt aber nicht. Es bricht mir das Herz und ich hole gegen allen Regeln doch eine kleine Spende aus der Tasche, wofür die Mutter sich freundlich bedankt. Kurze Zeit später komme ich wieder durch die gleiche Straße und sehe, dass alle Kinder ein Eis bekommen haben und die Mutter in der Ecke etwas Schlaf nachholen kann. Das kleine Mädchen winkt mir fröhlich zu. Wenn eine kleine Gabe für so etwas benutzt wird, gebe ich doch gern. Und dennoch – dass ein Eis für die Kinder und etwas Schlaf für eine Mutter nicht zu den Selbstverständlichkeiten eines Lebens gehören sollte, empört mich wieder einmal.

Marktleben

Foto: Vera Bartholomay

Der erste Ausflug geht zum Kunsthandwerker-Markt „Dilli Haat“, ein MUSS für alle Delhi-Besucher. Hier decke ich mich ein mit Mitbringsel, Leckereien aus allen Teilen Indiens, bunten Tüchern und schönen Schreibwaren.

Direkt gegenüber befindet sich das INA – ein bunter Markt für den täglichen Bedarf an Lebensmitteln, Haushaltwaren und Kleider. Aber auch mit einem abenteuerlichen Angebot an Fisch und Fleisch. Die Tiere sind teilweise noch am Leben und werden vor Ort geschlachtet. Die Abflussrinnen sind voller Blut und Tierteilen. Halbe Tiere hängen offen am Haken in den engen Gassen, man muss sie beinahe beiseiteschieben, um durchzukommen. Entsprechend riecht es hier auch in Hitze. Wir sehen Teile der Tiere, die wir in Europa kaum noch zuordnen können in unserer verpackten und sterilen Fleischwelt. Nun ja, Fleisch würde ich hier grundsätzlich nicht kaufen. Wohl eher endgültig Vegetarier werden.

Feste feiern

Ramadan ist gerade zu Ende und es wird das „Eid“-Fest gefeiert. So treffen wir auf große Menschenmassen in den muslimischen Stadtvierteln wie das Nizzamuddin, was wieder eine ganz andere Welt darstellt. So wie man hier gefühlt stündlich die Welten wechselt.

Auch das hinduistische Neujahrsfest „Nav varsh“ findet fast zeitgleich statt. Eine der dazugehörigen Sitten ist, dass Gruppen von 9 Kindern (eigentlich sollen es sogar 9 Mädchen sein) in ihren besten Kleidern von Tür zu Tür ziehen und Süßigkeiten geschenkt bekommen.

Kontrast der Gesundheitssysteme

Da es kurz vor der Geburt unseres Enkelkindes ist, lerne ich eine beeindruckende Gesundheitsversorgung kennen. Da sieht unser deutsches System wirklich schlecht aus im Vergleich. Zuvorkommender Service überall, kaum Wartezeiten, engmaschige Begleitung, Fachärzte lösen sich übergangslos ab. Überall sehr gut ausgebildetes und erfahrenes Personal. Natürlich nur für Menschen mit einer guten Krankenversicherung oder genügend Geld in der Hand. Für die allermeisten Inder ist es absolut illusorisch, sich dringend notwendige Hilfe zu holen. Wieder der große Kontrast zwischen arm und reich.

Es kommen sogar wohlhabende Menschen aus arabischen und afrikanischen Ländern hierher, um sich für unterschiedlichste Krankheiten behandeln zu lassen, da die Qualität der medizinischen und zahnmedizinischen Versorgung so hoch ist und die Preise viel günstiger als in Europa.

Aber die Ungerechtigkeit schmerzt.

Foto: Vera

Das große Ereignis

Dann ist unsere kleine Lilly Priya da! Ganz winzig, aber kerngesund. Wir sind alle überglücklich! Ich könnte darüber unendlich viel schreiben, aber allzu viele private Details gehören hier nicht hin.

Nur…so ein Menschenleben in den allerersten Wochen eng begleiten zu dürfen, ist ein riesengroßes Geschenk, das mich tief bewegt. Wir haben spannende Jahre vor uns.

Vera Bartholomay ist Autorin und Seminarleiterin für die körpertherapeutische Methode „Heilsame Berührung“. Sie bildet bundesweit Therapeuten und Lehrer aus. Ihre Bücher: „Heilsame Berührung von Körper, Herz und Seele“, „Herzen berühren –  Sehnsucht nach tiefen Begegnungen“ und „Projekt Sehnsucht – ein Mutmachbuch für alle, die von der Selbstständigkeit träumen“.

www.vera-bartholomay.com

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