Von Alex Männer
Nach mehr als zwei Jahren unerbittlicher Kriegshandlungen zwischen der Ukraine und Russland scheint die militärische Lage für Kiew nahezu aussichtslos zu sein. Seine Streitkräfte, denen nicht zuletzt wegen großer Personalprobleme der Zusammenbruch droht, haben der Übermacht des Gegners inzwischen nur wenig entgegenzusetzen und erleiden so eine Niederlage nach der anderen.
Die Hauptursache, warum die ukrainischen Truppen im gesamten Jahresverlauf konsequent zurückgedrängt werden, liegt darin, dass sie immer noch kein Mittel gefunden haben, um gegen die erfolgreiche Offensivtaktik der Russen anzukommen. Diese besteht in der Regel darin, durch massive Angriffe der Artillerie und der Luftwaffe, durch zusätzliche Truppen sowie durch clevere Ablenkungsmanöver einen Vorteil an einem bestimmten Frontabschnitt zu schaffen, um dort die Verteidigung der Ukrainer zu durchbrechen und die Kontrolle über strategisch wichtige Gebiete zu übernehmen. Dabei werden die ukrainischen Soldaten meist von der Versorgung aus dem Hinterland abgeschnitten und danach aufgerieben.
Auf diese Weise verlor die Ukraine in den vergangenen Monaten bereits mehrere strategisch wichtige Ortschaften. Zuletzt etwa die Stadt Ugledar im Süden des Donbass, die als die letzte Hochburg Kiews in dieser Region galt. Das russische Militär hatte Ugledar Anfang Oktober durch einen überraschenden Vorstoß vollständig eingenommen und dadurch den Weg für den weiteren Vormarsch Richtung Dnjepr freigemacht.
Wie diverse Militärexperten in Anbetracht dieser Entwicklung an der Front wiederholt betonen, sei die ukrainische Armee unlängst ausgelaugt und brauche daher dringend Entlastung. Dafür müssten die Russen beispielsweise durch einen weiteren Konflikt – quasi durch eine "zweite Front" – von Kampfhandlungen im Donbass abgelenkt werden. Infrage kommt etwa Georgien, das genau diese zweite Front eröffnen könnte.
Innerhalb der Führung Georgiens wird diese Option offenbar längst diskutiert, wie der georgische Ex-Premierminister Bidsina Iwanischwili in einem TV-Interview vergangene Woche erklärt hatte. Iwanischwili zufolge soll nämlich ein hochrangiger westlicher Beamter dem ehemaligen georgischen Regierungschef Irakli Garibaschwili angesichts des Ukraine-Krieges angeboten haben, eine militärische Auseinandersetzung mit Russland zu beginnen und eine zweite Front zu eröffnen. Laut Iwanischwili ging aus dem Gespräch zwischen den beiden Männern hervor, dass die Kampfhandlungen nur drei oder vier Tage dauern würden und dass Georgien danach zum "Partisanenwiderstand" übergehen müsste.
Schlechte Erfahrung aus dem Fünf-Tage-Krieg
Dass ein solches Unterfangen für die kleine südkaukasische Republik höchstwahrscheinlich in einer Katastrophe enden würde, weil sie im Falle eines Krieges mit Russland in der Tat schon nach wenigen Tagen mit einer klaren Niederlage zu rechnen hätte, darüber sind sich die meisten Experten einig. Dafür spricht vor allem die Erfahrung aus dem sogenannten "Fünf-Tage-Krieg" 2008, der – wie der Name schon sagt – fünf Tage dauerte und mit einer schmerzhaften Niederlage für das vom Westen unterstützte Georgien endete.
Das Land verlor bei dieser kriegerischen Auseinandersetzung mit der russischen Militärmacht damals nicht nur sehr viele seiner Soldaten und eine enorme Anzahl an Kriegsgerät, sondern musste auch den neuen Status quo in Bezug auf die abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien hinnehmen. Diese Regionen, die sich zuvor schon im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion der Kontrolle durch die georgische Zentralgewalt entzogen hatten und lange Zeit als selbst ernannte Staaten von niemandem anerkannt wurden, erhielten nach dem kurzen Krieg die volle Anerkennung Moskaus als selbstständige internationale Akteure. Heute scheint ihre Rückkehr nach Georgien nahezu unmöglich zu sein.
In puncto Kampfkraft ist die Ausgangslage für Russland heute sogar um einiges besser als im Jahr 2008. Denn die Russen haben ihre Streitkräfte seitdem erfolgreich modernisiert und sie können heute zudem auf eine unermessliche Erfahrung aus dem Ukraine-Krieg zurückgreifen. Im Gegensatz dazu verfügen die georgischen Truppen kaum über nennenswerte militärische Erfahrung.
Daher liegt die einzige Bedeutung der zweiten Front aus Sicht des Westens und der Ukraine offensichtlich darin, Russland dazu zu bringen, einen Teil seiner Truppen aus dem Donbass abzuziehen und gegen Georgien einzusetzen. Auch wenn das im Höchstfall nur wenige Monate in Anspruch nehmen würde, wäre damit den ukrainischen Truppen, die den russischen Vormarsch kaum aufhalten können, offenbar enorm geholfen.
Ob eine zweite Front gegen Russland in der Tat jenen Nutzen bringen kann, der erforderlich ist, ist mehr als fraglich. Davon geht unter anderem der ehemalige Generalstabschef der georgischen Armee, Guram Nikolaischwili, aus, berichten russische Medien. Laut Nikolaischwili könnte ein militärischer Schlag Georgiens gegen Russland bestimmte Kräfte der russischen Armee zwar für eine Weile in der Region binden, aber dies würde zu "katastrophalen Folgen für Georgien" führen.
Schließlich hätte Georgien definitiv keine Chance gegen die russische Übermacht, meint Nikolaischwili:
"Russland würde mehrere Stunden benötigen, um ganz Georgien zu blockieren – Häfen, strategische Autobahnen, Luftverbindungen. Einheiten, die sich in den abchasischen und südossetischen Gebieten befinden, könnten eingesetzt werden, möglicherweise auch jene Truppen, die in der Nähe von Georgien stationiert sind. Natürlich würde der Westen Georgien nicht zu Hilfe kommen. Wir haben es 2008 gesehen."
Angesichts solcher Aussichten ist nicht davon auszugehen, dass Georgien einen Krieg zu beginnen bereit ist, der nicht zu gewinnen ist. Im Gegenteil, die georgische Führung, die ihren Machterhalt nach dem Sieg der Regierungspartei "Georgischer Traum" bei den vergangenen Parlamentswahlen sichern konnte, wird ihre derzeitige Politik der Nichteinmischung vermutlich beibehalten und einem Konflikt mit Moskau weiterhin aus dem Weg gehen. Damit dürfte eine zweite Front gegen Russland im Südkaukasus zumindest vorerst in weiter Ferne gerückt sein.
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