TikTok und die Politik: Soziale Spaltung durch Social Media

Die etablierten Parteien haben eine Brandmauer zur AfD hochgezogen. Wann aber kommt die Brandmauer zu TikTok? Die Plattform geht kaum gegen Falschinformationen und Hetze vor. Integre Nutzende werden daher stets im Hintertreffen bleiben, schreibt unser Gastautor.

Olaf Scholz und seine Aktentasche bei TikTok
Olaf Scholz und seine Aktentasche bei TikTok. (Screenshot des TikTok-Kanals) CC-BY 4.0

Mit ihrem alternativen Verhältnis zu Wahrheit, Toleranz und Humanität fährt die AfD Wahlerfolge ein. Ihr Klientel nutzt kaum noch klassische Medien zur Information, sondern Social Media. Dank deren Algorithmen verbreiten sich Falschinformationen und Hetze in Filterblasen und setzen sich fest. Facebook, X oder Telegram machen es vor. TikTok aber ist der Meister der Skrupellosigkeit. In der Europäischen Union nutzen 142 Millionen Menschen TikTok, also fast jeder Dritte.

Die russische und die chinesische Regierung nehmen mit Desinformationstruppen Einfluss auf das, was auf TikTok ausgesendet und konsumiert wird. TikTok wird von Extremisten zur Verbreitung ihres Gedankenguts verwendet und trägt so zur Radikalisierung der politischen Debatte bei. Diese Form der Kommunikation ist ein großes Risiko für unsere Demokratie.

In Rumänien erreichte Călin Georgescu als bis dahin im öffentlichen Diskurs völlig unbekannter Kandidat bei Präsidentschaftswahlen Ende November 23 Prozent der abgegebenen Stimmen in der ersten Runde. Dies schaffte er mit einer fast ausschließlich über TikTok betriebenen Kampagne, in der rumänische Faschisten aus der NS-Zeit und der russische Präsident Putin gehuldigt wurden.

Die AfD kam bei der vergangenen Europawahl bei 16- bis 24-Jährigen auf 16 Prozent. In dieser Altersklasse ist TikTok die meistgenutzte App. Die AfD-Fraktion im Bundestag hat aktuell bei TikTok mehr als 400.000 Follower; alle fünf anderen im Bundestag vertretenen Fraktionen kommen zusammen gerade mal auf rund 220.000. Von März 2023 bis März 2024 wurden die Clips der AfD-Fraktion rund 458.000 Mal aufgerufen, die der anderen fünf Fraktionen zusammen 223.000 Mal.

Etablierte Politiker als schlechte Vorbilder

Um TikTok nicht den Rechten zu überlassen, meinen Politiker, mit ihrer dortigen Präsenz der AfD und deren Propaganda etwas entgegensetzen zu können. Gesundheitsminister Karl Lauterbach machte den Anfang. Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Aktentasche folgten (@TeamBundeskanzler). Selbst Robert Habeck und seine Grünen wollen über TikTok einen Meinungswandel herbeiführen.

Habeck auf TikTok verblüfft besonders, hatte er doch 2019 Twitter und Facebook vorläufig wegen Hass, Falschinformationen und unsicherer Datenverarbeitung verlassen. Inzwischen ist es auch dorthin zurückgekehrt.

Deutsche Sicherheitsbehörden, insbesondere die Verfassungsschutzämter, sehen diese Aktivitäten kritisch, ebenso die Datenschutzbehörden. Bußgelder auf europäischer Ebene gegen TikTok haben offenbar keinen Einfluss auf die Nutzung in Deutschland. TikTok behauptet fälschlich, sich an die europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zu halten. Die Regeln zum Kinderschutz werden nicht beachtet. Valide Rechtsgrundlagen für die Verarbeitung bestehen nicht. Weder die uninformierten Einwilligungen noch Vertragskonstrukte, geschweige denn ein „berechtigtes Interesse“ können die Verarbeitung durch TikTok legitimieren. Schon gar nicht die Verarbeitung sensitiver Daten, etwa in Bezug auf politische Meinungen.

Viele Fragen, kaum Antworten

Das Verbot politischer Werbung, zu dem sich TikTok selbst bekennt, wird regelmäßig missachtet. Von „Privacy by Design“ und „Privacy by Default“ kann keine Rede sein. Bei Sicherheitsfeatures wie etwa der Kennzeichnung von Videos mit drastischen Bildern, gefährlichen Stunts und KI-generiertem Inhalt bestehen Defizite. Filteroptionen für unerwünschte oder schädliche Inhalte fehlen.

2023 verhängte die französische Datenschutzaufsichtsbehörde CNIL gegen TikTok ein Bußgeld in Höhe von 210 Millionen Euro wegen der Cookie-Banner bei seiner Browserversion. Gravierend ist die fehlende Transparenz: Aufsichtsbehörden, Politik oder Nutzende – niemand hat auch nur ansatzweise Kenntnis darüber, welche Datenverarbeitung für welche Zwecke erfolgt. Gemäß Analysen werden bei jedem Videoaufruf rund 60 Datenpunkte gesammelt; knapp 600 Datenpunkte werden über jedes Video gespeichert.

Die auf künstlicher Intelligenz basierenden Algorithmen der Plattform sind nicht nachvollziehbar. Bei Werbeanzeigen werden chinesische Marken wie Shein oder Temu bevorzugt. Die Datentransfers nach China und die dort völlig ungewissen Auswertungen und Nutzungen sind ein weiterer Datenschutzverstoß. Da mögen die TikTok-Funktionäre noch so treuherzig beteuern, solche Transfers gäbe es nicht. Rechtmäßigkeitsvoraussetzung ist, dass sie dies nachvollziehbar belegen können.

Nach chinesischem Recht kann TikTok verpflichtet werden, der dortigen Regierung auf Verlangen Daten jeder Art herauszugeben. Im Dunkeln bleibt, wie die Regierung Chinas heute auf TikTok inhaltlich Einfluss nimmt.

Meinungsfreiheit ist kein Argument

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat klargestellt, dass das Betreiben von Social-Media-Accounts auf einer datenschutzwidrigen Plattform selbst rechtswidrig ist. Das heißt, alle diejenigen, die sich über TikTok vermarkten, sind für die dadurch verursachten Datenschutzverletzungen mit verantwortlich. Seit weit mehr als zehn Jahren weisen die Datenschutzbehörden darauf hin, dass sich der Staat bei der personenbezogenen Datenverarbeitung keiner illegal verarbeitender Medien bedienen darf. Ist Politikern und allen anderen TikTokern illegal …egal?

Meinungsfreiheit ist kein Gegenargument. Äußerungen auf einer platten Plattform wie TikTok sind zweifellos grundrechtlich geschützt. Das entbindet aber Medium und Autoren nicht davon, die allgemeinen Gesetze zu beachten. Was für Lokalzeitungen, Spiegel, ARD oder RTL gilt, gilt auch für Social Media generell und TikTok speziell. Es gibt keine Regel, wonach die Reichweite eines Mediums dessen Zulässigkeit bestimmt.

Was ist zu tun?

Die Annahme mancher Demokraten, der menschenverachtenden Kommunikation der AfD durch eigene Präsenz auf TikTok etwas entgegensetzen zu können, trügt: Die Meinungsmache bestimmt der Algorithmus von ByteDance. Wer mitmacht, bleibt Objekt. Solange das Unternehmen keine Neigung zeigt, gegen die Fake-Konten der AfD und anderen menschenverachtenden Netzwerken, gegen Falschinformationen und Hetze wirksam vorzugehen, bleiben integre Nutzende im Hintertreffen.

Nötig ist, das gesamte jugendschutz-, wettbewerbs- und datenschutzrechtliche Instrumentarium anzuwenden. Es ist also richtig, dass die EU-Kommission im Februar ein Verfahren wegen des Verstoßes gegen den neuen Digital Services Act (DSA) eingeleitet hat. Dabei geht es auch um die Frage, ob die Plattform Kinder süchtig macht.

Hohe Bußgelder kann ein Unternehmen wie TikTok einpreisen. Aufsichtsrechtlich möglich sind aber letzten Endes auch Verbote und Betriebsuntersagungen. Trifft die Diagnose der Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats zu, dann müssen die demokratischen Instanzen auch bereit sein, das Risiko von Shitstorms einzugehen. Die Aufsichtsbehörden genießen aus guten Gründen Unabhängigkeit und sollten sie gerade hier unter Beweis stellen.

Dass die Neigung zum behördlichen Tätigwerden angesichts der breiten Akzeptanz TikToks bis hinein in die Bundesregierung nicht besonders entwickelt ist, mag erklärbar sein. Akzeptabel ist es nicht. Es ist richtig, dass die etablierte Politik eine Brandmauer zur AfD errichtet hat. Wann kommt die Brandmauer zu TikTok?

Thilo Weichert, Jurist und Politologe, Vorstandsmitglied der Deutschen Vereinigung für Datenschutz e. V. (DVD) und Mitglied des Netzwerks Datenschutzexpertise, von 2004 bis Juli 2015 Datenschutzbeauftragter von Schleswig-Holstein und damit Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz (ULD) in Kiel.


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