Von Susan Bonath
Mit dem Schleifen ihrer sozialdemokratischen Positionen begann die SPD schon vor mehr als 100 Jahren. Inzwischen unterscheidet sich ihre neoliberale Agenda kaum noch von denen anderer Parteien, wie CDU und FDP. Ihre einstige Klientel, die Arbeiterklasse, hat sie längst vergrault. Doch angeblich will die SPD nun laut einem neuen Positionspapier "zu ihren Wurzeln zurückkehren". Sie möchte zum Beispiel Normalverdiener steuerlich entlasten und dafür Spitzenverdiener verstärkt zur Kasse bitten.
Das wirkt zwar noch immer wie ein halb garer Versuch, demnächst nicht vollständig unter den "sonstigen Parteien" zu verschwinden. Auch lässt die SPD-Politik der letzten Jahrzehnte erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit solcher Wahlkampfversprechen aufkommen. Aber den neoliberalen Hardlinern geht schon das zu weit. CDU-Chef und Kanzlerkandidat Friedrich Merz und FDP-Chef Christian Lindner drehen am Rad der Entrüstung und verbreiten altbekannte Mythen – wohl vor allem aus Angst um ihre eigenen Pfründe.
SPD: Superreiche höher besteuern
Nach Jahrzehnten des permanenten Verrats an der Arbeiterklasse klingt das am Wochenende verabschiedete SPD-Papier wie ein letztes Aufbäumen gegen den eigenen Untergang. Sie will offensichtlich den Sozialkahlschlag, den sie zumeist in Koalition mit den Unionsparteien CDU und CSU, aber auch mit den Grünen (Agenda 2010) selbst mitverursacht hat, zu ihren Gunsten ein wenig aufhalten.
Demnach beabsichtige sie unter anderem, die Altersversorgung zu "stabilisieren", den Mindestlohn auf 15 Euro pro Stunde zu erhöhen – derzeit liegt er bei 12,41 Euro, ab Januar soll er auf 12,82 Euro steigen – und eine Vermögenssteuer von einem Prozent "für sehr hohe Vermögen" und "mit hohen Freibeträgen" wiederzubeleben.
Außerdem will die SPD die Lohn- und Einkommensteuer für die Mittelschicht senken und selbige für die Oberschicht ab sehr hohen Einkünften stark anzuheben. Mit anderen Worten: Sie will an die Steuerprogression ran, welche in Deutschland auch untere Einkommen stark belastet.
Staat kassiert Normalverdiener ab
Danach fordert der Staat 2024 für jeden Euro über dem Grundfreibetrag von 11.784 Euro – knapp 1.000 Euro Einkommen pro Monat – schon 14 Prozent Steuern. Oberhalb von monatlich 1.417 Euro werden 24 Prozent fällig und für Zuflüsse über 5.563 Euro gilt bereits der Spitzensteuersatz von 42 Prozent.
Dann gibt es noch den sogenannten Reichensteuersatz von 45 Prozent, der für Jahreseinkünfte oberhalb von 227.825 Euro anfällt. Danach ist Schluss mit dem Anstieg. Allerdings können die jeweiligen Grenzen deutlich nach oben verschoben werden: durch Kinderfreibeträge, diverse Sonderausgaben und so weiter. Es gilt die Faustregel: Je höher die Einkünfte, desto mehr Kniffe zur Steuervermeidung sind möglich.
Deutsches Schonprogramm für Reiche
In den 1970er- und 1980er-Jahren lag der Spitzensteuersatz noch bei 56 Prozent. Danach wurde er sukzessive auf 42 Prozent gesenkt. Weil die Staatseinnahmen einbrachen, führte die Bundesregierung 2007 den zusätzlichen Reichensteuersatz von 45 Prozent ein. Auch wer beispielsweise fünf Millionen Euro im Jahr kassiert, kommt nicht darüber hinaus.
Allerdings gibt es ein Problem: Der Grundfreibetrag und insbesondere die Einkommensgrenzen, ab denen jeweils höhere Steuern gezahlt werden müssen, wurden über Jahrzehnte nicht hinreichend an die Inflation, den Lebensstandard und die Lohnentwicklung angepasst. Das führte dazu, dass Normalverdiener immer höher belastet und Superreiche, die zudem Schlupflöcher nutzen können, besser gestellt wurden.
Neoliberale in Aufruhr
Lässt man die fragwürdige Glaubwürdigkeit des spontanen Wahlkampf-Sinneswandels der SPD mal außer Acht und unterstellt tatsächliche Kompetenz bei der konkreten Ausführung, geht der Plan der ehemals sozialdemokratischen Partei durchaus in die richtige Richtung. Doch die neoliberale Avantgarde bangt und sieht das erwartungsgemäß völlig anders. In Gestalt von Friedrich Merz und Christian Lindner gibt sie sich erbost und "tingelt" mit ihren allfälligen Mythen vom gelobten Markt durch die Medien.
CDU-Chef Friedrich Merz, Atlantik-Brückler, Ex-BlackRock-Aufsichtsratschef in Deutschland und selbst erklärter Einkommensmillionär, zeigte sich entsprechend "schockiert", wie der Spiegel berichtete.
Merz sagte demnach in einer ARD-Sendung: Werde die Entlastung der Normalverdiener durch "höhere Besteuerung des obersten Prozents der Verdienenden gegenfinanziert", dann müsse "deren Steuersatz auf 60 Prozent steigen". "Dann", so Merz sichtlich erregt, "ist unsere Antwort klar und deutlich: Nein. Das ist eine Belastung für den Mittelstand."
"Leistungsträger" Friedrich Merz...
Nun muss man wissen, dass Merz selbst zum obersten einen Prozent der deutschen Bevölkerung gehört, in der die Vermögen bekanntlich von Jahr zu Jahr ungleicher verteilt sind. Für ihn gibt es keine Oberschicht, denn er fühle sich, wie er vor einigen Jahren bekundete, selbst als "Teil der gehobenen Mittelschicht". Wer dieser angehöre, sei schließlich "Leistungsträger".
Man kennt die Phrasen: Das eine Prozent der Superreichen in Deutschland wird zu "Leistungsträgern" und zur "Mittelschicht" zugehörig umgedeutet, obwohl sie in aller Regel kraft wirtschaftlichen Eigentums von der Arbeit anderer leben. Um dann die Kleinunternehmer in Angst und Schrecken zu versetzen: Es gehe an den Geldbeutel der "mittelständischen Unternehmer" und "Handwerksbetriebe", so seine Parole.
… sieht Reichen-Pfründe in Gefahr
Das ist natürlich Unfug, denn die wenigsten von diesen Klein- und Mittelunternehmern kassieren für sich selbst ein zu versteuerndes Gehalt beziehungsweise einen Nettogewinn abzüglich der Betriebsausgaben oberhalb von 15.000 Euro monatlich – die Klientel, welche die SPD nach eigenen Angaben anpeilt. Und selbst wenn, würden sie lediglich den höheren Steuersatz für den Teil ihres Einkommens zahlen, das darüber liegt. Andersherum würden darunter liegende Zuflüsse geringer besteuert – was letztlich entlastet.
Das Märchen von den superreichen Leistungsträgern, die sich gerne ärmer rechnen, als sie sind, hat einen langen, neoliberalen Bart. Mal ehrlich: Würden Merz und 99 weitere Vertreter seiner Klientel spontan ausfallen, fiele das wohl weitaus weniger ins Gewicht, als wenn plötzlich 100 Krankenschwestern oder Altenpfleger ihren Dienst quittierten. Merz fürchtet sicherlich vor allem um seine eigenen Pfründe.
Lindner schürt Angst vor "Planwirtschaft"...
In eine weitere neoliberale Mottenkiste griff FDP-Chef Christian Lindner. Die SPD verabschiede sich mit ihrem Positionspapier von der sozialen Marktwirtschaft, raunte dieser auf X (ehemals Twitter), wie der Spiegel berichtet. Sie wolle wohl stattdessen eine "gelenkte Verwaltungswirtschaft".
Da piekst er in ein altes Wespennest, das trefflich die dem gelernten Bundesbürger jahrzehntelang eingetrichterte Angst vor "Planwirtschaft" triggert. Dabei bedient er sich auch einer Lüge: Die sogenannte "soziale Marktwirtschaft", ein Konzept der 1960er und 1970er Jahre, basierte gerade auf vermehrter staatlicher Planung der bundesdeutschen Ökonomie. Davon abgesehen, plant freilich auch jeder Konzern – dies allerdings ausschließlich für seine eigenen Profite, nicht etwa für das Wohl der Allgemeinheit.
… und fordert weitere Sozialkürzungen
Und dann holt Lindner die sprichwörtliche Katze aus dem Sack: Angeblich gingen die Vorschläge der SPD "auf Kosten von Fachkräften und Mittelstand". Auch das ist unwahr, da nach dem Willen der Partei gerade 99 Prozent der Steuerzahler, die unterhalb der angepeilten Einkommensgrenzen liegen, besser gestellt wären. Auf dieser Mär aufbauend, bekräftigte Lindner sogleich Erwartbares: Er will das Bürgergeld und den Sozialstaat weiter kürzen, um Geld in die Staatskassen zu spülen.
Was er und seinesgleichen geflissentlich außer Acht lassen: Erstens ist die dort einzusparende Summe verhältnismäßig klein. Zweitens würden dadurch rund acht Millionen Menschen, die auf Grundsicherungsniveau leben müssen, noch ärmer. Das würde die Binnenkaufkraft deutlich weiter senken, und die entsprechenden Wirtschaftssektoren somit schwächen, statt sie zu stärken.
Und drittens setzt ein derartiger Sozialabbau die Lohnabhängigen immer stärker unter Druck: Sie verzichten eher auf ihre Rechte und akzeptieren aus Furcht vor Arbeitslosigkeit auch miese Arbeitsbedingungen und klägliche Löhne. Wer will schon ganz unten landen? Lindners Einwürfe taugen nur zur Lohndrückerei. Damit kennen sich die Bundesregierungen der letzten Jahrzehnte trefflich aus.
Die Lüge von der "betroffenen Mittelschicht"
Um es zusammenzufassen: Tatsächlich würde der Vorschlag der SPD nur das obere eine Prozent betreffen. Das müsste dann statt 45 vielleicht tatsächlich 60 Prozent für jeden zu versteuernden Euro oberhalb von vielleicht 270.000 oder 300.000 Euro an den Staat abdrücken.
Wer als Unternehmer für sich selbst einen Gewinn in dieser Höhe abzweigen kann, gehört ganz sicher nicht zur Mittelschicht. Und die weichgespülte Version einer Vermögenssteuer, die die SPD vorschlägt, betrifft sie schon wegen der beabsichtigen hohen Freibeträge ebenfalls eher nicht.
Fakt ist: Wenn Superreiche aus der Verantwortung für die Allgemeinheit weiter herausgehalten werden, wird die echte Mittelschicht, die in der Produktion, auf dem Bau, in Kliniken, Pflegeheimen, Supermärkten und anderswo schuftet, Kleinbetriebe betreibt oder als Freiberufler Ihre Leistungen anbietet, überproportional belastet werden müssen. Anders ist ein soziales Gemeinwesen nicht aufrechtzuerhalten.
Neoliberalismus ist historisch gescheitert
Die Steuern fließen allerdings beileibe nicht nur in die Ausgaben für Soziales und die Infrastruktur, sondern bekanntlich immer stärker in die Rüstung und Kriegsplanung, in überbordende Beamten-Versorgungsstrukturen und unsinnige Bürokratiemonster. Auch hier müsste dringend gespart werden.
Kosten verschlingen zudem eine zunehmende Bürgerüberwachung und Polizeiaufrüstung – während die Kriminalität gerade deshalb weiter steigt, weil viele ärmer werden. Das ist die perfekte, selbst gemachte Abwärtsspirale. Diese kann nur durch aktive Armutsbekämpfung durchbrochen werden.
Die Neoliberalen à la Merz und Lindner haben für die Beseitigung dieser Probleme kein Konzept – und hatten das noch nie. Der Neoliberalismus ist historisch gescheitert. Das beweist die Geschichte der letzten fünf Jahrzehnte: Man blicke auf das Vereinigte Königreich, die USA oder schlicht auf Deutschland, wo überall die sozialen Verwerfungen zunehmen und Obdachlosencamps und Suppenküchen wie Pilze aus dem Boden sprießen.
Zumindest dafür, dass es in puncto Sozialabbau und Lohndumping so nicht weitergehen kann, scheint es ein Einsehen bei der SPD zu geben – wobei die Hoffnung auf Umsetzung irgendeines ihrer Punkte so gering sein dürfte, wie ihre über die Jahrzehnte verspielte Glaubwürdigkeit.
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