Die Fahnenflucht in der Ukraine scheint mittlerweile zur einzigen Überlebensoption für die Männer und auch Jugendlichen des Landes geworden zu sein. Der ukrainischen Armee laufen trotz Ausreiseverbots und rigoroser brutale Zwangsrekrutierungen an öffentlichen Orten, die Männer davon.
Mittel und Wege in der Not gefunden
Abgesehen davon, dass sich bekanntlich begüterte Ukrainer bei Zeiten aus dem Land abgesetzt hatten und nunmehr unseren Straßen mit ihren „Luxuskarossen“ bevölkern, scheint es auch im „gemeinen Volk“ nunmehr Wege zu geben, einer Zwangsrekrutierung zu entkommen. Dies geschieht nunmehr mittels Schleppern über die Grenze nach Rumänien, mit gefälschter Untauglichkeit oder sogar „staatlich organisiert“.
Andrij hatte beispielsweise 6000 Dollar für die Flucht aus der Ukraine bezahlt. Vasyl ist untergetaucht. Mykola war im Ausland, als der Krieg ausbrach, und kehrte einfach nicht zurück. Anton floh von russisch besetztem Gebiet aus, wie der Tagesspiegel ebenfalls berichtet hatte.
Wahl zwischen lebendem Deserteur oder totem Held
Mittlerweile dauert der Ukrainekrieg mehr als zwei Jahre an. Männer zwischen 18 und 60 Jahren gelten dort als wehrpflichtig und dürfen nach dem Kriegsrecht das Land nicht verlassen, damit sie zum Kampf eingezogen werden können. Männern, die nicht kämpfen wollen, wird die Ausreise verwehrt.
Ausnahmen gibt es nur für Väter von mindestens drei Kindern und für Väter behinderter Kinder, für Männer mit Behinderungen und für Männer, die Ehefrauen oder Eltern mit Behinderung betreuen. Ein allgemeines Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt es in der Ukraine freilich nicht. Allen, die den Gebrauch der Waffe ablehnen, droht Gefängnis oder Zwangsrekrutierung. Nichts desto trotz gelingt einigen die Flucht.
Anfang April hatte der ukrainische Grenzschutz bekannt gegeben, dass im Durchschnitt täglich zehn Männer erwischt würden, die versuchen, die Ukraine illegal zu verlassen. Wie viele tatsächlich bereits geflohen sind, ist offenbar nicht bekannt.
Vier dieser Männer hatten dem Tagesspiegel anonym erzählt, wie sie dies zu Wege gebracht hatten.
Mykola, 43, „die Frage „Flucht oder Front? stellte sich für mich nicht, weil ich Glück hatte. Am 24. Februar 2022 war ich in Berlin und bin einfach nicht in die Ukraine zurückgekehrt. Ich bin schon ein paar Jahre vor der russischen Invasion nach Berlin gekommen, um als Bauarbeiter zu arbeiten. Ich komme aus der Westukraine, inzwischen gibt es in unserem Dorf fast keine Männer mehr. Sie sind entweder an der Front oder, wie ich, im Ausland.
Wir sind Gastarbeiter. Früher haben wir abwechselnd gearbeitet, drei Monate in Deutschland, dann drei in der Ukraine, hin und zurück, denn sechs Monate im Jahr dürfen Ukrainer ohne Visum in den Schengen-Raum reisen. Nun leben wir einfach hier und arbeiten illegal. Die Nachfrage nach unserer Arbeit ist konstant hoch. Ich habe nicht einmal den Aufenthaltstitel als Geflüchteter beantragt, weil ich nicht von Sozialleistungen abhängig sein wollte. Und jetzt weiß ich, dass ich das Richtige getan habe. Niemand zwingt mich zu Deutschkursen oder fordert mich zu Vorstellungsgesprächen beim Jobcenter auf. Ich bin ein unsichtbarer Mensch.
Meine Frau ist zu mir gekommen, meine Tochter ist in der Ukraine geblieben und studiert, kommt aber regelmäßig zu Besuch. Trotzdem vermisse ich mein Zuhause sehr. Das Gemüse aus meinem eigenen Garten, das Angeln. Ich vermisse nicht das ganze Land, aber meine kleine Heimat, verstehen Sie? Ich nehme es dem ukrainischen Staat übel, dass er uns keine sozialen Garantien gibt und uns gleichzeitig auffordert, ins Land zurückzukehren, um es zu verteidigen. Ich fühle mich dazu nicht verpflichtet, denn ich bin mit der aktuellen Politik nicht einverstanden. Ich glaube den offiziellen Statistiken nicht. Mir scheint, dass die Zahl der Toten und Verwundeten in Wirklichkeit viel höher ist, um Hunderttausende. Kinder der ukrainischen Politiker kämpfen hingegen gar nicht. Sie verstecken ihre Söhne, doch die einfachen Männer schicken sie an die Front.
Als mein Cousin 2022 eingezogen wurde, sammelten wir im Familienkreis Geld, um ihm eine hochwertige Ausrüstung zu kaufen. Denn wir glaubten nicht, dass der Staat ihn mit allem versorgen würde, was er brauchte. Vor fünf Monaten wurde er im Donbass als vermisst gemeldet. Dies ist eine große Tragödie für unsere Familie. Offenbar ist er gefallen, aber seine Frau erhält die gesetzlich vorgeschriebene finanzielle Unterstützung nicht, weil seine Leiche noch nicht gefunden wurde. Das ist ungerecht. Sie verurteilt mich übrigens in keiner Weise dafür, weil ich mich vor der Front drücke, während ihr Mann dort gestorben ist. Im Gegenteil. Sie ist der Meinung, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe, nicht in die Ukraine zurückzukehren. Ich habe kein schlechtes Gewissen. Ich bin froh, dass ich dem Wehrdienst entgehen konnte. Aber die jungen Männer, die jeden Tag an der Front sterben, tun mir sehr leid. Ebenso ihre Mütter, Witwen und verwaisten Kinder“.
Vasyl, 51, „kurz vor der russischen Invasion war ich im Ausland und hatte ein Rückflugticket für den 20. Februar 2022. Natürlich hatte ich eine Vorahnung, dass ein Krieg unvermeidlich ist. Aber selbst nachdem ein Freund, der im Verteidigungsministerium arbeitete, mich am 18. Februar anrief und mir nachdrücklich riet, vorerst nicht in die Ukraine zurückzukehren, habe ich es dennoch getan. Es erschien mir schändlich, mein Heimatland zu verraten. Dazu war meine Familie noch in Kyjiw und es war zu diesem Zeitpunkt nicht klar, ob sie ins Ausland ausreisen kann. Ich ging also zurück und kam mir vor wie eine Art Geisel, wie Millionen anderer ukrainischer Männer. Wir sind keine Verräter, aber auch keine Helden. Wir sind einfach nur normale Menschen, die nicht genug Kraft haben, sich freiwillig zur Verteidigung ihres Vaterlandes zu melden. Denn an die Front will ich nicht.
Ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich bin eher Fatalist und glaube, dass man seinem Schicksal nicht entkommen kann. Aber ich kann mir aufgrund meines Alters und meines Gesundheitszustands kaum vorstellen, als Soldat an der Front zu stehen. Ich habe in der Armee gedient, aber das ist mehr als 30 Jahre her. Zu Zeiten der UdSSR. Manche Kommandanten bezeichnen solche „Alten“ wie mich an der Front jetzt öffentlich als Belastung. Ich lebe seit dem Krieg einfach weiter und vertraue auf mein Glück. Die Mobilisierung ist schließlich eine Art Roulette. Bislang sind etwa eine Million Männer in die Armee eingezogen worden, einschließlich der Freiwilligen. Das ist etwa einer von zehn Wehrpflichtigen. Es ist mir allerdings etwas peinlich, mich mit Bekannten und Freunden zu treffen, die im Krieg sind oder deren Angehörige an der Front gefallen sind. Ein enger Studienfreund von mir ging in den ersten Tagen des Krieges als Freiwilliger an die Front und wurde verwundet. Inzwischen wurde er für wehrunfähig erklärt, wir treffen uns ab und zu. Er spricht nicht über seine Erlebnisse im Krieg und ich frage auch nicht danach, doch die Spannung ist spürbar.
Bis die Regierung Ende letzten Jahres die Mobilmachungsmaßnahmen verschärft hat, hat sich mein Leben nicht sehr von dem in der Vorkriegszeit unterschieden. Doch jetzt machen Rekrutierungsbeamte buchstäblich Jagd auf Männer auf der Straße, im Verkehr und an den Kontrollpunkten. Deshalb schränke ich mein Auftreten an öffentlichen Orten so weit wie möglich ein. Natürlich ist es unmöglich, den Kontakt zur Außenwelt völlig zu vermeiden. Manchmal muss ich in das Lager gehen, in dem meine Waren gelagert sind – ich bin im Internethandel tätig. Ich gehe in den Einkaufsladen in der Nähe meines Hauses und besuche Freunde.
Im Frühjahr dieses Jahres hatte meine Mutter einen Schlaganfall, sie stand zwischen Leben und Tod. Meine Frau und ich beschlossen, dass sie zu ihr fährt und ich in Kyjiw bleibe. Meine Mutter lebt in einem kleinen Dorf, 500 Kilometer entfernt. Das bedeutet, dass der Weg zu ihr über viele Kontrollpunkte führt, an denen oft Einladungen zum Rekrutierungszentrum verteilt werden. Ich schäme mich furchtbar, dass ich sie nicht besucht habe. Doch bald muss ich mich auf jeden Fall im Rekrutierungszentrum melden. Am 18. Juli läuft die Frist für alle Männer im wehrpflichtigen Alter ab, dies zu tun. Wer sich widersetzt, dem drohen Geldstrafen und möglicherweise sogar die Beschlagnahmung des Eigentums. Ich habe beschlossen, diesen Schritt bis zum letzten Moment hinauszuzögern. Die Anmeldung ist noch keine Einberufung an die Front. Alles wird vom Zufall abhängen. Der eine wird einberufen, der andere nicht. Das Schlimmste ist die Ungewissheit und die Unmöglichkeit, sein Leben zu planen. Aber ich bereue es trotzdem nicht, dass ich damals in die Ukraine zurückgekehrt bin“.
Andrij, 31, „in meinem Heimatland gelte ich als Feigling und Vaterlandsverräter, aber die Meinung der anderen bedeutet mir nicht so viel. Ich finde es besser, ein lebender Kriegsverweigerer zu sein als ein toter Held. Und ich glaube, viele von denen, die mich verurteilen, sind in Wirklichkeit neidisch auf mich. Ich genieße das Leben eines freien Mannes, während andere jeden Tag mit Schrecken auf die Einberufung an die Front warten. Ich war mutiger als sie, indem ich weggelaufen bin. Es war riskant, aber ich habe es getan, vor allem wegen meiner Frau und Kinder. Sie sind vor dem Krieg nach Polen geflohen und haben dort auf mich gewartet. Meine Familie zu behalten, war mir wichtiger als ein Land zu verteidigen. Ich war nicht bereit, die besten Jahre meines Lebens zu verschwenden und vielleicht sogar mein Leben im Krieg zu verlieren. Ich wollte nicht zum Kanonenfutter werden. Und warum sollten meine beiden Kinder vaterlos aufwachsen? Nur, weil ich nur zwei Kinder habe? Väter von drei Kindern haben das Recht, ins Ausland zu gehen und bei ihren Familien zu leben. Ich erkenne darin keine Logik.
Im September 2022 überquerte ich die rumänische Grenze. Anders als viele Männer habe ich nicht versucht, den Grenzfluss Theiß zu durchschwimmen. Meine körperliche Leistungsfähigkeit war für ein solches Abenteuer zu schlecht. Aber ich hatte das Glück, gute Schlepper zu finden, die mir von einer Person empfohlen wurden, die meine Frau in Polen kennen gelernt hatte. Der Mann hatte bereits am Vortag die Grenze auf ähnliche Weise überquert. Das ist tatsächlich ein großes Geschäft. Soweit ich weiß, haben diese Leute früher Zigaretten geschmuggelt. Jetzt schmuggeln sie Menschen über die Grenze. Ihre Leistungen haben mich sechstausend Dollar gekostet. In der Nacht kam ich mit dem Zug in der Stadt Czernowitz in der südlichen Ukraine an. Am nächsten Morgen holten mich ein Fahrer und ein Schlepper in meinem Hotel ab und wir fuhren in die Berge. Mit dem Schlepper ging ich ein paar Kilometer zu Fuß auf Bergpfaden weiter. Er brachte mich zu einem ukrainischen Grenzzaun und sagte mir, wohin ich weitergehen sollte. Der Zaun bestand aus Stacheldraht, aber er war nicht allzu dicht. Es war ganz einfach, ihn vom Boden hochzuheben und auf die andere Seite zu kriechen. So befand ich mich auf neutralem Gebiet.
Ich ging geradeaus, bis ich zu einem Zaun an der rumänischen Grenze kam. Er war stabiler gebaut, Metall und Stacheldraht in zwei Reihen. An einer Stelle gab es einen Wassergraben unter dem Zaun, an ihm entlang bin ich auf rumänisches Gebiet geklettert. Ich kam auf die Straße, wo mich ein rumänischer Fahrer wie vereinbart abholte, nachdem ich ihm meine Koordinaten durchgegeben hatte. Er brachte mich zur Polizei. Dort erhielt ich ein Anmeldeformular, mit dem ich jede Grenze im Schengen-Raum überqueren konnte. Ich bin nach Polen gefahren, wo ich nun als Taxifahrer arbeite. Als ich mich zur Flucht entschied, ging ich davon aus, dass ich vielleicht nie wieder in die Ukraine zurückkehren könnte. Andererseits gibt es in der Ukraine keine strafrechtlichen Konsequenzen bei einem illegalen Grenzübertritt. Aus rechtlicher Sicht bin ich also kein Krimineller. Es wäre ein Verstoß gegen das Gesetz gewesen, wenn ich nach einer Vorladung an die Front geflohen wäre. Ich habe es aber geschafft, vorher zu flüchten. Vielleicht werde ich in mein Heimatland irgendwann zurückkehren. Doch im Moment habe ich diesen Wunsch nicht“.
Anton, 39, „an der Front wäre ich kaum von Nutzen, ich bin HIV-positiv. Zu Beginn des Krieges wurden Männer mit einer solchen Diagnose überhaupt nicht eingezogen, doch jetzt werden sie nur noch bei fortgeschrittener Krankheit vom Dienst befreit. Meine Infektion ist im Zustand der Subkompensation, das heißt, ich würde als wehrfähig gelten. Zwar nicht in einer Sturmbrigade, aber zum Beispiel in der Logistik oder im Sicherheitsdienst. Ich kann mir mich aber selbst in einer Nebenrolle bei den Streitkräften kaum vorstellen. Die antiretrovirale Therapie, die ich mache, ist eine enorme Belastung für den Organismus. In meinem Fall ist die Nebenwirkung der Medikamente Schwindel, der jedes Mal auftritt, wenn ich sie einnehme. Deshalb habe ich keine Gewissensbisse, dass ich nicht an der Front, sondern in Deutschland bin. Seit Juli 2022 lebe ich in Düsseldorf, besuche Deutschkurse und arbeite nebenbei als Handwerker. Ich schäme mich umso weniger, weil ich nicht aus dem ukrainisch kontrollierten Gebiet geflohen bin, sondern aus dem russisch besetzten Cherson. Ich bin weit entfernt von Politik oder Aktivismus, deshalb war ich nicht bei pro-ukrainischen Kundgebungen, aber wie viele Einwohner der Stadt war ich über die Geschehnisse entsetzt und hoffte nur auf eines, dass Cherson bald von den Russen befreit würde.
Ich wollte nicht weg. Im Sommer gab es dann aber Nachrichten über die Vorbereitung der Gegenoffensive der ukrainischen Armee, und die Regierung selbst forderte die Bewohner der Region auf, die Stadt zu verlassen. Es standen zwei ebenso gefährliche und schwierige Routen zur Auswahl. Entweder über den Kontrollpunkt in der Region Saporischschja in das ukrainisch kontrollierte Gebiet oder über die besetzte Krim nach Russland und von dort nach Europa. Ich wählte den zweiten Weg, weil ich keine Verwandten in anderen Städten der Ukraine hatte und unser Staat Flüchtlingen nicht hilft. Jetzt will die Regierung von Selenskyj, dass ich zurückfahre, um mich beim Kriegskommissariat zu melden. Sonst werden mir meine Bürgerrechte entzogen. In Deutschland habe ich von der antiviralen Therapie bis zur Unterkunft alles bekommen. Glücklicherweise benötige ich keine konsularischen Dienstleistungen der Ukraine wie beispielsweise eine Passverlängerung. Sie sind allen Männern im wehrpflichtigen Alter seit kurzem versagt. Mein Pass ist aber noch acht Jahre lang gültig. Doch ich kann meine Wohnung in Cherson nicht verkaufen, auch nicht, wenn ich in Deutschland eine Vollmacht auf den Namen meiner Verwandten ausstelle. Ich bedauere, dass ich die Wohnung nicht früher verkauft habe. Jetzt müsste ich dafür in die Ukraine zurückkehren oder mich damit abfinden, dass meine Wohnung beschlagnahmt wird, was höchstwahrscheinlich passiert. Der Staat droht damit, das Eigentum derjenigen zu konfiszieren, die sich nicht beim Kriegskommissariat melden.
Es ist sehr unangenehm, sich wie ein Feind des eigenen Staates zu fühlen. Während ich früher davon träumte, in die Ukraine zurückzukehren, sobald der Krieg vorbei ist, bin ich mir jetzt nicht mehr sicher. Ich habe beschlossen, erst einmal hier Fuß zu fassen. Gleichzeitig hoffe ich, dass sich nach dem Krieg die Emotionen beruhigen und sich die Einstellung gegenüber uns ändern wird. Schließlich braucht die Ukraine Arbeitskräfte für den Wiederaufbau des Landes. Ohne Menschen ist sie kein Land, sondern nur ein Territorium. Wenn man mir also die Gelegenheit gibt, werde ich zurückkommen ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.
Diese Berichte sprechen ohne Zweifel für sich, wie auch für die „Situation“ des ukrainischen Regimes. Die deutsche Ampel, wie auch die EU in ihrer, transatlantisch gesteuerten unbändigen Kriegslust müssten sich fraglos an diesen Schicksalen orientieren, um nicht ganz Europa in ein derartiges Dilemma zu stürzen.
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