Von Alexej Danckwardt
Die deutsche Justiz verurteilt immer wieder Unschuldige, gern auch zu lebenslangen Strafen. Wenn sich dann, Jahre später, im einen oder anderen Fall per glücklicher Fügung (und man braucht viel Glück, wenn einen die Strafjustiz einmal am Wickel hat) erweist, dass alles ganz anders war als im Urteil "frei von vernünftigen Zweifeln" beschrieben, wehren sich Richter mit Händen und Füßen – erst gegen den überfälligen Freispruch, dann gegen eine angemessene Entschädigung.
Experten schätzen, dass etwa jedes Dritte bis jedes vierte Strafurteil in Deutschland auf falschen Tatsachen beruht, weniger als fünf Prozent der Strafprozesse enden jedoch mit einem Freispruch – das zeigt das Missverhältnis und verdeutlicht, dass man sich auch als gesetzestreuer Bürger nie vor Justitia in Sicherheit wähnen kann.
Der an die Schweine verfütterte Bauer
Als bisher prominentestes Beispiel eines Fehlurteils galt der Fall des "von Schweinen gefressenen Bauern". Ehefrau, Töchter und Schwiegersohn hatten nach fragwürdigen Vernehmungsmethoden sogar gestanden, den "Haustyrannen" erschlagen zu haben. Zur Verurteilung fehlte nur die Leiche, und so schrieb der findige Kommissar den intellektuell eher einfach disponierten Beschuldigten die Erzählung ins Geständnis, sie hätten die Leiche zu Tierfutter verarbeitet und an die Schweine im Stall verfüttert.
So lauteten dann auch die "Tatsachenfeststellungen" im Urteil des Landgerichts Landshut. Der Bauer verschwand nach einem Wirtshausbesuch im Jahr 2001, die Verurteilung (zwei der vier Angeklagten erhielten lebenslange Haft) erfolgte im Jahr 2005.
Vier Jahre später, 2009, hoben Bauarbeiter das Auto des Bauern aus der Donau. Im Inneren – ein Skelett, Rechtsmediziner ordneten es dem vor acht Jahren Verschwundenen zu. Gefressen hatten ihn nachweislich Fische, nicht Schweine.
Was danach begann, lässt sich nicht anders denn als Justizskandal bezeichnen. Das Landgericht lehnte die Wiederaufnahme des Prozesses ab. Es sei egal, wie sich die Verurteilten der Leiche entledigt hätten, begründeten die Richter das Verdikt. Geständnis sei Geständnis, und das "kleine Detail", was mit der Leiche geschah, ändere nichts am "Kerngeschehen". Dass der Bauer, der vor seinem Tod im Wirtshaus nachweislich "über den Durst" getrunken hatte, sich selbst in die Donau befördert haben könnte, ließ sich nach so vielen Jahren und ohne Lunge nicht mehr zweifelsfrei nachweisen, und glauben wollten es die Landshuter Richter nicht.
Der Fall musste bis vor den Bundesgerichtshof. Erst über diesen Umweg erreichten die zu Unrecht Verurteilten die Wiederaufnahme ihres Prozesses, die erneute Hauptverhandlung startete im Herbst 2010. Erst im Februar 2011 kamen die Unglückseeligen auf freien Fuß: Freispruch "aus Mangel an Beweisen".
Die hohe Kunst des "Dichtschreibens"
Zur selben Zeit, als die Landshuter "Bauernmörder" um die Wiederaufnahme ihres Verfahrens kämpften, saß im selben Freistaat Bayern Manfred Genditzki auf der Anklagebank. Er war viele Jahre Hausmeister eines Mehrfamilienhauses in Rottach-Egern, in dem die Verstorbene eine Wohnung mietete. Eines Tages im Jahr 2008 wurde die pflegebedürftige Seniorin tot in ihrer Badewanne aufgefunden, der Fall ging als "brutaler Badewannenmord" bundesweit durch die Presse. Die Indizien gegen Genditzki waren äußerst dünn, direkte Beweise gab es keine, doch der Landshuter Fall hatte die Richter und die zwei Schöffen am Landgericht München II nichts gelehrt: Sie befanden den Angeklagten für schuldig, die Mieterin nach einem Streit geschlagen und dann in der Badewanne ertränkt zu haben, und verurteilten ihn wegen Mordes zu lebenslanger Haft.
Genditzki ging in Revision, der Bundesgerichtshof verwies das Verfahren an eine andere Kammer des Landgerichts München II zurück. Das Tatmotiv, das die Staatsanwaltschaft für die Tat zu konstruieren versuchte, hatte sich nämlich zwischen Anklageerhebung und Urteil praktisch in Luft aufgelöst, und das war den obersten Richtern aufgefallen.
Hatte die Staatsanwaltschaft Genditzki, der für die 87-Jährige über Jahre ihre alltäglichen Angelegenheiten, inklusive des Geldabhebens in der Bank, erledigt hatte, unterstellt, 54.000 von deren Konto abgehobene Euro unterschlagen und die Frau zur Verdeckung dieser Untreue getötet zu haben, musste das Gericht in der Hauptverhandlung verblüfft feststellen, dass die Seniorin über die Abhebungen und die Ausgaben penibel Buch geführt hatte. Es stand fest: Der Angeklagte hatte kein Geld unterschlagen und damit auch nicht das Motiv, eine strafbare Untreue mit dem Mord verdecken zu wollen.
Statt freizusprechen, ließen die Richter ihre Fantasie spielen, wie es denn sonst gewesen sein könnte. Sie teilten das in der Anklageschrift beschriebene, an sich zweifelhafte Tatgeschehen in zwei Teilakte auf und behaupteten, das Ertränken in der Badewanne sei zur Verdeckung von zwei vorausgegangenen Schlägen erfolgt.
Offenbar aufgrund "göttlicher Eingebung" erfanden die Richter an Stelle des von der Staatsanwaltschaft fantasierten "Zur-Rede-Stellens" wegen der unterschlagenen Reichtümer eine Eifersuchtsszene der Rentnerin, über die "der Angeklagte entgegen seinem sonst gezeigten Langmut derart in Rage" geriet, dass "er ihr entweder mit einem nicht mehr feststellbaren Gegenstand zwei Mal mit großer Wucht auf den Hinterkopf schlug oder er packte Frau N. und stieß sie mit dem Kopf gegen einen harten Gegenstand, oder er schlug auf sie ein und sie fiel auf einen harten Gegenstand". Als der Angeklagte die Frau dann verletzt sah, habe er sich entschlossen, die Seniorin zur Verdeckung der Körperverletzung in der Badewanne zu ertränken. Ergo: Mord zur Verdeckung der Körperverletzung.
Dies waren wörtliche Zitate aus dem Urteil. Haben deutsche Richter nicht eine reiche Fantasie, die sie zum Schreiben von Kriminalromanen befähigen würde? Es gab nirgends in den Akten oder dem sonstigen Prozessstoff auch nur den geringsten Anhaltspunkt für eine Eifersuchtsszene, alles hier Zitierte war frei erfunden. Was nicht passte, wurde passend gemacht – passend zum Mordvorwurf, der um jeden Preis gehalten werden sollte.
Revision – Ein "Sechser" im Lotto
Dass der BGH diese Belletristik aufhob, half dem Angeklagten allerdings wenig: Die andere Kammer des Landgerichts, an die das Verfahren zur neuen Verhandlung zurückverwiesen war, übernahm die von den Vorgängern ersonnene Version des Tatgeschehens, vermied jedoch die formellen Fehler, die den Bundesrichtern die Aufhebung möglich gemacht hatten. Genditzki wurde im Januar 2012 erneut wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Die hiergegen eingelegte Revision blieb dieses Mal ohne Erfolg.
Dieses Vorgehen nennt man in Juristenkreisen "Dichtschreiben". Ein erfahrener Richter vermag es, auch den gröbsten Unfug im Urteil so zu formulieren, dass das Revisionsgericht, auf die Überprüfung von Rechtsfehlern beschränkt, nichts tun kann.
Das ist in Deutschland System: Ausgerechnet in Strafprozessen, bei denen es um besonders viel geht, gibt es hierzulande keine effektive Rechtsmittelinstanz.
Während gegen am Amtsgericht ausgesprochene relativ geringe Strafen (bis zu vier Jahren) Berufung eingelegt werden kann, wodurch ein anderes Gericht die gesamte Beweisaufnahme von Anfang an wiederholt, gibt es gegen Urteile von Landgerichten nur die Revision. Und die hat viele Tücken. Zum einen sind die vom BGH geschaffenen Anforderungen an die schriftliche Revisionsbegründung so zahlreich und so streng, dass nicht einmal jeder Fachanwalt für Strafrecht alle Hürden bewältigt. Zum anderen führt das Revisionsgericht eben keine neue Beweisaufnahme durch, es sucht bestenfalls nach Widersprüchen in der Urteilsbegründung. Finden kann es nur welche, wenn das Landgericht ausnahmsweise nicht fit genug im "Dichtschreiben" ist.
Und wer mitbekommen hat, was der frühere Bundesrichter Thomas Fischer vor einigen Jahren aus dem Nähkästchen plauderte, weiß, dass eine Revision immer ein Glücksspiel ist.
Ein neues Gutachten klärt den Todeszeitpunkt
Mehr als 13 Jahre lang saß Genditzki im Gefängnis, bevor sein Kampf um ein Wiederaufnahmeverfahren erfolgreich war, weil neue Gutachten untermauerten, dass die alte Frau bei einem Unfall starb und nicht Opfer eines Verbrechens wurde.
Ausschlaggebend war eine genauere Bestimmung des Todeszeitpunktes. Der neue Gutachter schränkte ihn auf die Zeit von 16.30 bis 18 Uhr ein, und da hatte Genditzki durchgehend ein hieb- und stichfestes Alibi. Die Urteile 2010 und 2012 waren von einem Mord vor 15 Uhr ausgegangen, das war laut neuem Gutachten aber ausgeschlossen.
Zudem meinten nun auch mehrere Rechtsmediziner, dass ein Unfalltod "nicht nur möglich, sondern auch sehr wahrscheinlich" war: Die Frau war in die Badewanne gestürzt, als sie Wasser zum Wäschewaschen einließ, und ertrank darin bewusstlos. Medizinisch passte alles zueinander, nachdem mindestens fünf Experten den Fall untersucht hatten. Genditzki wurde "wegen erwiesener Unschuld" freigesprochen, eine Formulierung, die man nur im Urteil liest, wenn sich die Richter völlig sicher sind. Auch die beiden Hämatome am Hinterkopf, die 2010 noch Futter für die richterliche Fantasie und die erfundene Körperverletzung im Rahmen einer ebenso frei erfundenen Eifersuchtsszene waren, ordneten die Rechtsmediziner dem Sturz in die Badewanne zu.
Welche Entschädigung ist da gerecht?
Genditzki wurde im Jahr 2023 entlassen. Nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) hat er inzwischen mehr als 368.000 Euro für die ohne Schuld verbüßte Haft erhalten, 75 Euro für jeden der 4.916 Tage in Unfreiheit.
Nun fordert er laut Medienberichten eine neue Entschädigung, zusätzlich mindestens 750.000 Euro. Nach Ansicht von Genditzki und seiner Anwältin deckt das ihm früher gezahlte Geld nicht den gesamten moralischen Schaden ab.
Die Süddeutsche Zeitung zitiert Genditzkis Anwältin Regina Rick:
"Das ist verflixt wenig für 14 verlorene Jahre, zumal von der Entschädigungssumme auch noch Geld für 'Kost und Logis' abgezogen wurden. Auf die Kost und die Logis hätte er gern verzichtet."
Auch gegen das Ergebnis dieses StrEG-Verfahrens wollen Genditzki und Rick klagen, wie die Juristin sagt:
"Es stresst ihn natürlich. Er hat immer noch Albträume."
Ähnlich hatte Justizopfer Gustl Mollath, der mehr als sieben Jahre in der Psychiatrie saß, den Freistaat Bayern im Zuge der Amtshaftung verklagt. Nach einer juristischen Auseinandersetzung vor dem Landgericht München I im Jahr 2019 bekam er insgesamt rund 670.000 Euro von ursprünglich beantragten 1,8 Millionen zugesprochen.
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