Die Umsetzung des Kartoffelbefehls von Friedrich II. aus dem Jahr 1756 war alles andere als ein Selbstläufer. Was uns zu Kartoffelbefehlen der heutigen Zeit bringt. Etwa die Einführung der elektronischen Patientenakte. Und zu modernem Standesdünkel.
In der heutigen Episode von Degitalisierung soll es um Kartoffeln gehen. Um es genauer zu sagen, um die Einführung davon. Die Einführung der Kartoffel kann uns nämlich viel lehren über das Schmackhaft-Machen von allzu neuen Dingen, wie etwa auch der Digitalisierung.
Wir begeben uns dafür in die Zeit Friedrichs II., genannt Friedrich der Große. Der erließ per Schreiben vom 24. März 1756 eine Art Kartoffelbefehl, um den Anbau von Kartoffeln von oben zu forcieren:
Es ist von uns in höchster Person in unseren anderen Provinzen die Anpflanzung der sog. Tartoffeln, als ein sehr nützliches und sowohl für Menschen als Vieh auf sehr vielfache Weise dienliches Erd-Gewächse, ernstlich anbefohlen.
Wie bei jeder groß angelegten Einführung von irgendetwas Weltbewegenden wie Kartoffeln oder Digitalgroßprojekten wie der elektronischen Patientenakte klappte das mit der Benutzung des neuen Wunderwerks schon damals nicht allein per Befehl von oben.
Kartoffeln anbauen war das eine, die korrekte und breitflächige Nutzung aber das ganz andere. So schrieb der Zeitgenosse Joachim Nettelback in seinen Erinnerungen zur damaligen Rezeption von Kartoffeln bei der Bevölkerung:
Dagegen nahmen die guten Leute die hochgepriesenen Knollen verwundert in die Hände, rochen, schmeckten und leckten daran. Kopfschüttelnd bot sie ein Nachbar dem andern. Man brach sie auseinander und warf sie den anwesenden Hunden vor, die daran schnupperten und sie dann liegen ließen.
Nun ist es aber so, dass Kartoffeln eigentlich an sich ja etwas Gutes sind. Heutzutage schätze ich sie im Besonderen in länglichen, dünnen Streifen frittiert oder in feinen Scheiben mit heißer Luft gebacken. Speziell im 18. Jahrhundert boten Kartoffeln auch einen Ausweg heraus aus einem nicht abwechslungsreichen Speiseplan, der normalerweise aus Getreide und Alkohol bestand. Einfacher im Anbau waren sie obendrein.
Moderne Kartoffelbefehle
Die Umsetzung des Kartoffelbefehls von 1756 war alles andere als ein Selbstläufer. Was uns zu Kartoffelbefehlen der heutigen Zeit bringt. Etwa die Einführung der elektronischen Patientenakte.
Der Bevölkerung sollen durch Befehl von oben jetzt endlich die Vorteile der Digitalisierung des Gesundheitswesens zuteilwerden. Generell ist ein möglicher Vorteil durch die Digitalisierung zu erwarten.
Nicht wenige Politiker*innen stellen sich in letzter Zeit sogar auf den Standpunkt, dass ohne Digitalisierung das Gesundheitswesen absehbar bald quasi vollständig wegen Fachkräftemangel, Überalterung der Gesellschaft und so weiter zusammenbrechen werde. Eine Digitalisierung von oben sei also unausweichlich. Untermauert wird das mit Zahlen von „15 Millionen Babyboomern, aus dem Erwerbsleben ausscheiden“ und zunehmend nicht mehr Behandelnde, sondern Patienten sein werden. Solche Zahlen nannte Karl Lauterbach etwa auf der Keynote der Digital Health Conference Ende November.
Digitalisierung sei damit in all ihren Spielarten notwendig, besonders die sogenannte Künstliche Intelligenz. Dafür müsse man jetzt unbedingt große Datenvorräte aufbauen, mit dem Ziel, den „größten“, „repräsentativsten“ und „interessantesten“ Gesundheitsdatensatz weltweit aufzubauen. OpenAI, Meta und Google würden sich auch schon sehr für diesen Datensatz interessieren.
Digitalisierung wird hier von Karl, dem Lauterbach, ähnlich heilbringend für die Bevölkerung zur Abwendung von Gesundheits- und Pflegenöten dargestellt wie die Kartoffel zur Abwendung von Hungersnöten im 18. Jahrhundert. Allerdings ist das mit dem Durchsetzen von solchen Befehlen ja inzwischen ein wesentlich demokratischerer Prozess geworden. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens, insbesondere die elektronische Patientenakte im Opt-out-Verfahren, wurde vom Bundestag in einem demokratischen Prozess beschlossen. Nicht nur in Deutschland, sondern auch durch europäische Gremien im Kontext des Europäischen Gesundheitsdatenraums (EHDS). Ganz ohne Widersprüchlichkeit sind beide Vorhaben keineswegs.
Moderne Standesdünkel
Auch heute gibt es an einigen Stellen noch immer Nuancen von Standesdünkel zwischen dem gemeinen Volk und den Herrschenden.
In dieser Woche hat die Verbraucherzentrale Bundesverband zum Beispiel eine Analyse der Informationsschreiben zum Opt-out aus der elektronischen Patientenakte publiziert. Ein Widerspruch scheint eher ungewollt.
Teils sind die Formulierungen sogar eher manipulativ. Die Knappschaft etwa versieht die Formulierung zum Widerspruch mit der impliziten Frage, ob Versicherte auch tatsächlich nicht von den Vorteilen der elektronischen Patientenakte profitieren wollen. Wirklich keine Kartoffeln?
Neu ist der unterschiedliche Umgang mit dem, was das Volk zu wollen hat und den Herrschenden ohnehin nicht. Friedrich, der Kartoffelkönig, aß selbst gar keine der von ihm so angepriesenen Kartoffeln, da sind sich Historiker*innen nach Analyse der Speisepläne relativ sicher. Kartoffeln landeten erst auf dem Speiseplan seines Nachfolgers, und auch da nur für die Bediensteten.
Moderne Klassengesellschaft
Zu den Errungenschaften der Neuzeit gehört sicherlich die allgemeine Krankenversicherung. Ein Hauch von Klassengesellschaft ist aber mit dem deutschen Zwei-Klassen-Krankenkassensystem geblieben. Gesetzlich Versicherte müssen meist lange auf Facharzttermine warten, für privat Versicherte sieht die Situation wesentlich besser aus.
Für Promis wie Karl Lauterbach selbst scheint es auch noch weitere Bevorzugungen zu geben. Für Politiker und andere Promis sei es „praktisch egal“, ob sie privat oder gesetzlich versichert sind. So zumindest die Aussage von vor ein paar Jahren, die sich aber nicht wesentlich verändert haben dürfte.
Oftmals sind führende Gesundheitspolitiker*innen wie Gesundheitsminister Karl Lauterbach oder sein Vorgänger Jens Spahn privat versichert. Von den politisch verordneten Segnungen für die gesetzlich Versicherten, wie das E-Rezept oder die elektronische Patientenakte, profitieren sie nur selten. Private Krankenkassen haben hier meist mehr Spielraum, ob und wann sie entsprechende digitalen Leistungen anbieten.
Vollste Überzeugung für das eigene Digitalprodukt, das nach Lauterbach „größte Digitalprojekt“ in Deutschland, sieht da doch irgendwie anders aus. Dabei solle dieses große Projekt doch Krebs, die „Geißel der Menschheit“, besiegen helfen.
Den Datenschatz, den größten und repräsentativsten Gesundheitsdatensatz, werden wir dann wohl aus anderen digitalen Feldern ernten müssen.
Friedrich dem Großen wurde zumindest zu seinen Zeiten diese clevere – neudeutsch: virale – Marketingstrategie zur Bewerbung der Kartoffel angedichtet: Der König habe auf seinen Gütern Kartoffeln anbauen und diese von Soldaten bewachen lassen. Das hätte die Bauern der Gegend neugierig gemacht und damit hätten sie auch den Wert der Knolle erkannt.
Es ist eine schöne Geschichte, historisch gesehen aber Desinformation. Diese Marketingstrategie stammte nämlich aus Frankreich von Antoine Parmentier.
Moderne Giftpflanzen
Zu Ende dieser Kolumne, in der es schon sehr viel um Kartoffeln ging, sei auch erwähnt, dass die Kartoffel auch eine Giftpflanze sein kann. Deshalb wurde die Kartoffel 2022 zur Giftpflanze des Jahres gewählt. Kartoffeln enthalten Solanin und Chaconin in den grünen Pflanzenbestandteilen, was je nach Dosis hochgiftig sein kann.
Seit dem 18. Jahrhundert haben wir den sicheren Umgang mit Kartoffeln gelernt. Wir versuchen aus Unwissen nicht mehr, die Laubblätter oder Beeren von Kartoffelsträuchern zu essen. Vergiftungserscheinungen durch die Kartoffel sind daher selten geworden.
In Hinblick auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens befinden wir uns gerade in einem Zeitabschnitt, bei dem die genauen Risiken des „größten Digitalprojekts“ mit geplantem Start ab Anfang 2025 noch nicht vollständig klar sind. Krankenkassen wie die AOK Nordwest bezeichnen die elektronische Patientenakte vollmundig zwar bereits als „absolut sicher“ – informieren aber vielleicht nicht ganz umfassend, worauf sich diese Gewissheit der Aussage bezieht.
Am Ende werden politische Befehle und vollmundige Versprechungen nicht dabei helfen, die Digitalisierung des Gesundheitswesens sicher und auf die Patient*innen zentriert umzusetzen. Angesichts der politisch beabsichtigten Geschwindigkeit, die laut dem ehemaligen Bundesdatenschutzbeauftragten Ulrich Kelber „zu langsam und überhastet zugleich“, ist noch nicht so ganz abzusehen, was da digital ab dem nächsten Jahr so passieren wird.
Etwas Zeit werden wir dem zu Beginn wohl geben müssen, um zu sehen, was uns da aus der Digitalisierung des Gesundheitswesens erwächst. Guten Appetit!
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