Von Anton Gentzen
Der französische Staatschef Emmanuel Macron hat neulich dazu aufgerufen, die Elsässer, die "unter Zwang" in Hitlers Streitkräften gekämpft haben ("Malgré-nous" – der Begriff kommt von der Schutzbehauptung elsässischer Kollaborateure, sie seien gegen ihren Willen zur Zusammenarbeit mit den Deutschen gezwungen worden), mit den Opfern des Faschismus gleichzusetzen. Dabei ging er allerdings weiter und zählte zu "Frankreichs verlorenen Söhnen", die nun der Nachsicht bedürften, ausdrücklich auch diejenigen, die sich freiwillig für Hitlerdeutschland engagiert haben.
Die "Tragödie" der Malgré-nous im Elsass müsse nun "anerkannt und gelehrt" werden, forderte Macron in seiner am Sonnabend in Strasbourg ausgerechnet aus Anlass des 80-jährigen Jubiläums der Befreiung der Stadt durch die alliierten Truppen vorgetragenen Rede. Die Geschichte der mehr als 130.000 Männer aus dem Elsass und der Mosel, die zwischen 1940 und 1944 in deutscher Uniform dienten, sei in Frankreich "zu wenig bekannt", beklagte der Präsident und drückte auf die Tränendrüse:
"Etwa 40.000 kehrten nie zurück. 30.000 kamen bei Kämpfen oder in Gefangenschaft ums Leben und 10.000 bis 12.000 gelten als vermisst."
Sie seien, behauptete Macron in seiner Rede, von den Nazis gezwungen worden, die deutsche Uniform anzuziehen, "da ihnen sonst Vergeltungsmaßnahmen gegen ihre Familien drohten".
Darüber lässt sich gewiss streiten. Das Elsass und der westliche Teil Lothringens waren 1940 immerhin zum integralen Teil des Deutschen Reiches geworden. Nach der damaligen Sprachregelung kamen die Gebiete "heim ins Reich", und hier galt wie überall sonst die Wehrpflicht. Gräber der vom NS-Regime exekutierten Kriegsdienstverweigerer finden sich in jeder Stadt, die zum Dritten Reich gehörte, und gewiss zog nicht jeder Deutsche völlig freiwillig die Wehrmachtsuniform an. Das gilt für das Elsass im selben Umfang – nicht mehr und nicht weniger – wie für Sachsen, Preußen oder Bayern.
Doch – genau wie im Falle des Sachsen, Preußen oder Bayern – macht dies denjenigen Elsässer, der die Wehrmachtsuniform dann doch anzog, nicht zum Opfer der Faschismus. Je nach individueller Schuld ist und bleibt er mindestens zittriger Mitläufer, in vielen Fällen eben auch glühender Anhänger und Täter. Gewiss, nicht jeder musste verurteilt werden, nur wenige wurden verurteilt. Aber gleich "Opfer des Faschismus"?
Der Wiederanschluss an das Deutsche Reich wurde im Elsass von großen Teilen der Bevölkerung freudig begrüßt. Gewiss, es gab hier auch diejenigen, die sich für Franzosen hielten und denen die Revision der Versailler Verträge gar nicht schmeckte. Doch Macron schert eben alle über einen Kamm: die Franzosen, die Deutschen, die Freiwilligen, die Unfreiwilligen. Und Widerstandskämpfer waren unter den "Malgré-nous" ohnehin nicht zu finden.
Und auch denjenigen Elsässer, der nicht die Wehrmachts-, sondern gleich die SS-Uniform anzog, schert Macron über denselben Kamm des vermeintlichen "Opfers". Verdeutlichen wir das an einem Beispiel, dem Beispiel eines der bekannteren deutschen Kriegsverbrechen in Frankreich.
Am 10. Juni 1944 ermordete eine Kompanie der Waffen-SS-Division "Das Reich", deren stilisiertes Emblem heute auf den Chevrons des ukrainischen Asow-Regiments prangt, brutal 643 Zivilisten in dem Dorf Oradour-sur-Glane, weil sie der Kollaboration mit der Résistance verdächtig waren. Die Division verfügte über umfangreiche Erfahrungen mit ähnlichen "Strafaktionen" in der Sowjetunion.
Am 12. Januar 1953 verhandelte ein Militärtribunal in Bordeaux die Anklage gegen mehrere Täter des Massakers von Oradour-sur-Glane. Sieben der Angeklagten waren deutsche Staatsbürger, aber vierzehn waren Elsässer, eben die besagten "Malgré-nous". Einer von ihnen hatte den Mut zu erklären, dass er sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatte, während die anderen, in der Hoffnung, einer Strafe zu entgehen, immer wieder das bekannte "gegen unseren Willen" sagten.
Am 11. Februar 1953 wurden 19 der 21 Angeklagten verurteilt. Nur zwei wurden hingerichtet. Am 19. Februar erließ das französische Parlament eine Amnestie für alle elsässischen SS-Männer, was Proteste in der Region Limousin auslöste. Bis 1958 wurden auch die deutschen SS-Männer, die an dem Massaker beteiligt waren, freigelassen. SS-General Heinz Lammerding, der das Massaker anordnete, starb 1971 in Bad Tölz, nach einer erfolgreichen Geschäftskarriere.
1983 wurde SS-Obersturmführer Heinz Barth, einer der Täter des Massakers, in der DDR gefasst und zu lebenslanger Haft verurteilt. Der letzte überlebende Augenzeuge der Ereignisse in Oradour, Robert Hébras, war Zeuge der Anklage im Prozess gegen Barth und sagte aus, dass dieser persönlich 15 bis 17 Menschen getötet hat, um seinen Untergebenen ein Vorbild zu sein.
Im Jahr 1997 wurde der SS-Mann Barth von den Behörden des wiedervereinigten Deutschlands freigelassen, und 2012 klagte eine "Veteranenorganisation" aus dem Elsass gegen Hébras, weil er in seinem Buch den Dienst von Elsässern in der SS-Division "Das Reich" und ihre Beteiligung an der Zerstörung von Oradour erwähnt hatte. Der Klage wurde in erster Instanz stattgegeben, zur Ehrenrettung der französischen Justiz jedoch ein Jahr später in der Berufungsinstanz abgewiesen.
Im Jahr 2017 besuchte Macron, damals Präsidentschaftskandidat, Oradour und traf sich mit Hébras. Jetzt, als Präsident, fordert er, dass die Geschichte der elsässischen SS-Männer in den Lehrplan französischer Schulen aufgenommen wird, wo sie als "Opfer einer Tragödie" dargestellt werden sollen, die sehr gelitten hätten, weil sie gezwungen waren, Menschen zu töten. Sie haben getötet, aber sie haben dabei gelitten, und deshalb sollen sie jetzt – gleichrangig mit denen, die von ihnen ermordet wurden – als Opfer des Faschismus anerkannt werden.
Die grüne Bürgermeisterin von Strasbourg, Jeanne Barseghian, schlug sogar vor, den Familien der im Krieg gefallenen "Malgré-nous" eine Entschädigung zu zahlen.
Als Deutscher hat man da einige Fragen. Erstens, was unterscheidet Macron und die Grüne ("Grün ist das junge Braun, Braun ist das verwelkte Grün", lehrt uns die Natur) Barseghian eigentlich noch von dem AfD-Abgeordneten Maximilian Krah mit seinem Differenzierungsversuch unter SS-Männern kurz vor der Europawahl? Zweitens, warum ist Marine Le Pen, die wegen Krah jede Zusammenarbeit mit der deutschen AfD aufgekündigt hat, die Rechtsradikale und nicht Emmanuel Macron, der nicht weniger, sondern deutlich mehr die Schuld von SS-Leuten relativiert, als es Krah in einem Nebensatz getan hatte?
Die wichtigste Frage ist jedoch: Brauchen tatsächlich nur die Deutschen eine neue Portion Denazifizierung in diesem Europa, das in seinem Hass auf Russen offenbar jede Orientierung und jeden Begriff von Gut und Böse verloren hat?
Die Zusammenfassung des Kriegsverbrechens von Oradour-sur-Glane und der Geschichte seiner juristischen Aufarbeitung beruht auf einer Ausarbeitung des Telegram-Kanals "RedWolf".
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