Der US-Präsident Joe Biden möchte sich in der Frage der Aufnahme der Ukraine in die NATO vor den Präsidentschaftswahlen in den USA nicht festlegen. Erst wenn die demokratische Kandidatin Kamala Harris die Wahlen im November gewinnen sollte, könnte Biden während der Übergangszeit zur neuen Präsidentschaft seine Position aussprechen, berichtete eine diplomatische Quelle der französischen Zeitung Le Monde am Samstag. Die vorzeitige Festlegung könnte die Chancen für Demokraten, die Wahlen gegen Donald Trump zu gewinnen, erheblich "verschlimmern".
Die US-Entscheidung zugunsten des NATO-Beitritts könnte gleichzeitig die Regierung Olaf Scholz umstimmen, so die Gesprächspartner von Le Monde. Die Einladung der Ukraine in die NATO ist einer der Punkte des sogenannten "Siegesplans", den Wladimir Selenskij seinen westlichen Partnern und der Werchowna Rada diese Woche vorgelegt hat. Kiew rechnet damit, die Einladung noch vor Bidens Rücktritt zu erhalten, und bezeichnet den Prozess als "Teil des Vermächtnisses der derzeitigen US-Regierung".
Bisher blockieren die USA und Deutschland jede Aussicht auf eine Erweiterung der NATO um die Ukraine, während Frankreich und das Vereinigte Königreich dies eher befürworten, fasst Le Monde zusammen. Die Amerikaner haben jedoch diplomatischen Quellen zufolge keine grundsätzlichen Einwände mehr gegen eine einfache Einladung. Die Einladung eines Staates zum NATO-Beitritt bedeutet keinen sofortigen Beitritt. Nachdem ein Konsens unter 32 Mitgliedern des Militärbündnisses erzielt und eine Einladung ausgesprochen wurde, beginnt ein langwieriger siebenstufiger Prozess der Aufnahme, der sich über Jahre hinziehen kann.
"Wir unterstützen die Ukraine mit aller Kraft", wiederholte Olaf Scholz kurz vor dem Vierertreffen im Kanzleramt mit Keir Starmer, Joe Biden und Emmanuel Macron. Er betonte jedoch, dass die NATO in diesem Krieg "nicht zu einer Kriegspartei" werden dürfe, um zu verhindern, dass sich der Konflikt "in eine noch größere Katastrophe verwandelt". Weit hinter den USA ist Deutschland einer der größten Unterstützer der Ukraine, plädiert aber immer mehr für die Einstellung der Kriegshandlungen.
Olaf Scholz sagte am Mittwoch im Bundestag erneut, dass es an der Zeit sei, "alles zu tun", um "einen Weg zu finden, diesen Krieg nicht weitergehen zu lassen". "Es ist richtig, dass wir, wenn wir darum gebeten werden, auch mit dem russischen Präsidenten darüber sprechen", ohne Entscheidungen "über die Köpfe der Ukraine hinweg und niemals ohne Abstimmung mit unseren engsten Partnern" zu treffen, fügte er hinzu.
Mit diesen Aussagen zog Scholz sofort Kritik auf sich, insbesondere von der CDU, die ihm Zurückhaltung vorwarf. Aber auch Teile seiner Partei SPD sind unzufrieden mit der Position des Bundeskanzlers. "Sowohl Olaf Scholz als auch Joe Biden haben ein Denken, das in der Zeit des Kalten Krieges verwurzelt und formatiert ist", sagte der SPD-Abgeordnete Nils Schmid vor einigen Tagen.
Laut Le Monde könnten vor allem die Türkei und Ungarn sich einer schnellen Annäherung Kiews an das Bündnis widersetzen. Der ungarische Premierminister Viktor Orbán bezeichnete am Donnerstag in Brüssel den "Siegesplan" von Selenskij als "mehr als erschreckend". "Die Einladung ist eine Präventivmaßnahme, die zeigen soll, dass nicht Wladimir Putin die Welt verändert und dass der Aggressor keine neue internationale Ordnung schaffen kann", argumentierte dagegen Selenskij im NATO-Hauptquartier vor der Presse.
Russland ist nach wie vor strikt gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine, wobei der russische Präsident Wladimir Putin die atlantischen Bestrebungen Kiews als einen der Hauptgründe für den Beginn der Militäroperation in der Ukraine im Februar 2022 anführt. Zuvor hat Russland die Rückabwicklung der NATO-Osterweiterung von den USA und der NATO schriftlich gefordert, was von Washington und Brüssel strikt abgelehnt wurde. Das russische Außenministerium hat diese Woche vor einer "unkontrollierten Eskalation" und der Unmöglichkeit einer diplomatischen Lösung gewarnt, sollte die Ukraine der Allianz beitreten.
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