Migration: AfD leugnet mehr Deutsche Geschichte, als du denkst

Migration gab es immer schon und wird es auch immer geben. Sie gehört zur Weltgeschichte dazu wie das Amen in der Kirche, auch wenn dir AfD & Co. etwas anderes einreden wollen. Wie es auch der Historiker Jochen Oltmer bezeichnete: Wanderung ist “der Normalfall menschlicher Existenz“. Genauso richtig ist, dass Menschen aus unterschiedlichen Gründen sich entschließen, woanders hinzugehen, sei es aus wirtschaftlichen, sozialen, politischen Motiven, wegen Hunger oder Krieg. Das war auch in Deutschland nicht anders: unsere Vorfahren flohen vor religiöser Verfolgung und Hunger beispielsweise in die USA, manche andere entschieden sich aus wirtschaftlichen Gründen, in Gebiete des heutigen Russlands auszuwandern, wieder andere zog es nach Lateinamerika. Du siehst: Aus genau den vielfältigen Gründen, aus denen heute Menschen zu uns kommen, haben Deutsche in der Vergangenheit ihre Heimat verlassen. 

Haben wir in unserem Alltag, in dem wir uns trotz Putins Krieg in der Ukraine schon so sehr an den Frieden gewöhnt haben, die Geschichte unserer eigenen Vorfahren vergessen? Schauen wir darauf.

Deutsche in den Vereinigten Staaten

Deutsche machten einen bedeutenden Anteil bei Migrationsbewegungen in der Vergangenheit aus. Obwohl Deutschland heutzutage und auch schon seit mindestens Mitte des 20. Jahrhunderts ein Einwanderungsland ist, liegt eine lange Geschichte der deutschen Auswanderung zurück, die viele heutzutage nicht mehr auf dem Schirm haben. Blicken wir zunächst auf die deutsche Auswanderung in die USA. Von 1816 bis 1914 wanderten 5,5 Millionen Deutsche in die USA aus. Ende des 19. Jahrhunderts machten die Deutschen sogar die größte ausländische Bevölkerungsgruppe in den USA aus. 

Institut der deutschen Wirtschaft Köln (Seite 6)

“Deutschland” ist hier jeweils innerhalb der historischen Landesgrenzen gemeint: entweder der Deutsche Bund vor 1871 oder das Deutsche Kaiserreich zwischen 1871 und 1918. 

Deutsche als “Wirtschaftsflüchtlinge”

Hauptgründe für die Auswanderung der Deutschen waren damals das schnelle Bevölkerungswachstum hierzulande, das zu Armut und Arbeitslosigkeit führte. Die ausgewanderten Deutschen in den USA waren also genau das, was wir heutzutage “Wirtschaftsflüchtlinge” bezeichnen würden – von Rechten ein oftmals despektierlich verwendeter Begriff. Aber auch religiös Verfolgte erhofften sich in den USA mehr Religionsfreiheit und auch persönliche Auswanderungsmotive spielten eine Rolle. Du siehst: Migration ist komplexer, als es dir manche vormachen wollen.

Was vielen Einwanderern in Deutschland immer wieder vorgeworfen wird, haben unsere Vorfahren in den USA par excellence vorgemacht: Sie haben Parallelgesellschaften gebildet. Wie Planet-Wissen schreibt: “Viele bildeten in den ländlichen Gebieten deutsche Gemeinschaften, wo man den gleichen Dialekt sprach und die Orte nach aktuellen deutschen Architekturmoden errichtete. Vielerorts entstand so ein „Little Germany“, und erst die Enkel dieser Einwanderer verstanden sich tatsächlich als Amerikaner.”

Flucht vor Antisemitismus unter dem NS-Regime

Schon Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich das Migrationsszenario in Deutschland im Zuge der Massenindustrialisierung. Arbeitskräfte wurden gebraucht und Deutschland wurde zum Einwanderungsland. Im Ersten Weltkrieg wurden noch mehr ausländische Arbeiter angeworben, auch viele Kriegsgefangene wurden zur Arbeit in Deutschland gezwungen.

Im Zuge der weiteren Verstärkung antisemitischer Pogrome, offenem Judenhass und Ausgrenzung von Jüdinnen*Juden aus der deutschen Gesellschaft verließen vor und nach 1933 viele von ihnen ihre deutsche Heimat. Bis 1939 waren es 247.000 Menschen, etwa die Hälfte der damals in Deutschland lebenden Jüdinnen*Juden. Jedoch wurde es für diese Flüchtlinge immer schwieriger, ein Aufnahmeland zu finden. Bei einer 1938 stattfindenden Konferenz wollte der damalige US-Präsident die Aufnahme von flüchtenden Jüdinnen*Juden global regeln. Mit Ausnahme der Dominikanischen Republik zeigte sich aber keiner der 32 anwesenden Staaten aufnahmebereit. Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise galten Schutzsuchende aus Deutschland als Belastung für die Wirtschaft und für die Sozialsysteme. Klingelt da etwas bei dir? “Belastung für die Sozialsysteme” – jüdische Deutsche wurden in der Vergangenheit aus denselben (teils vorgeschobenen) Gründen bei potenziellen Aufnahmeländern abgelehnt, aus denen heutzutage in Deutschland für weniger Asylzusagen appelliert wird.

Insgesamt vertrieben die Nationalsozialisten rund eine halbe Million Menschen, auch politische Gegner wie Kommunisten. Diejenigen, die nicht fliehen konnten, wurden weiter sozial marginalisiert, entrechtet und schließlich ermordet.

Die Geschichte der Russlanddeutschen

Du siehst: von der größten Einwanderergruppe in den USA hin zum Einwanderungsland durch Industrialisierung, Zwangsarbeit in den Weltkriegen und Ausgangsort für Flüchtlingsbewegungen durch das Gräuel der Nationalsozialisten – vieles hat sich innerhalb von nicht mal einem Jahrhundert in Deutschland getan. Und dabei haben wir noch nicht einmal eine andere große Auswanderergruppe beleuchtet: die Russlanddeutschen. 

Deutschsprachige Europäer wanderten bereits seit dem 17. Jahrhundert in Richtung des Russischen Kaiserreichs aus. Diese Bewegung verstärkte sich aus wirtschaftlichen und religiösen Gründen ab Ende des 18. Jahrhunderts. Wie Ira Peter, russlanddeutsche Journalistin, Podcasterin und Moderatorin (siehe Anmerkung am Ende des Artikels) dem Volksverpetzer schreibt:

“Einst hatte das zaristische Russland Deutschsprachige aus Mittel- und Westeuropa ins Land gerufen, hatte ihnen Land und Privilegien wie Steuer- und Religionsfreiheit sowie die Befreiung vom Militärdienst geboten. Damit angefangen hatte Zarin Katharina die Große. In ihrem Kolonistenbrief wandte sie sich 1763 an ihre Landsleute. Sie sollten unbewohnte oder dünn besiedelte Gebiete ihres stetig wachsenden Imperiums wie an der Wolga besiedeln und bewirtschaften. Katharinas Enkel, Zar Alexander I, setzte diese sich bewährte Praxis Anfang des 19. Jahrhundert fort. Auch er hatte neu eroberte Gebiete im Südkaukasus und am Schwarzen Meer zu besiedeln. Seinen Lockungen Richtung Osten folgten vor allem Menschen aus Württemberg, die vor Hungersnöten, Kirchenstreitigkeiten und einem despotischen König flohen.”

Wie auch in die USA zog es Deutsche oftmals aus wirtschaftlichen Gründen ins Zarenreich. Die Osteuropa-Expertin Marit Cremer betont: „Was heute abfällig Wirtschaftsflüchtlinge genannt wird, waren Deutsche in ihrer Geschichte auch.” Und auch wie in den USA bildeten Deutsche im Zarenreich Parallelgesellschaften.

Deportationen unter Stalin 

Doch die Privilegien für die Deutschen im Zarenreich hielten nicht für immer an. Schon ab 1871 wurde der Sonderstatus für Deutsche schrittweise abgeschafft. Russischer Nationalismus und Neid auf den wirtschaftlichen Erfolg der Deutschen führten zu Spannungen zwischen der russischen Gesellschaft und den Kolonisten. “Der deutsche Landerwerb und die auffällige Widersetzung gegen die Integration in die russische Gesellschaft wurden angeprangert. Die Versuchung war groß, die Kolonisten als Sündenböcke für ungelöste Probleme der russischen Agrarpolitik darzustellen und so die sozialen Spannungen auf dem Land auf den Kampf gegen den ‚nationalen Feind‘ abzuleiten”, wie das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte schreibt. Auch hier lässt sich eine interessante Parallele zum heutigen Umgang mit Migration schlagen. Heute wie damals werden Migranten gerne als Sündenböcke für nationale Probleme angesehen. 

Ira Peter beschreibt ihre Einordnung in Bezug auf das Zusammenleben so:

“Aus den Erzählungen in meiner Familie habe ich den Eindruck, dass die Menschen – egal welcher Ethnie und Religion zugehörig – recht gut miteinander auskamen, bis die Sowjetunion und vor allem der Krieg gegen Hitlerdeutschland vieles zu den Beziehungen zu Deutschen zerstörte.” 

Während des Zweiten Weltkriegs setzten sowohl Hitler als auch Stalin Vertreibungen und Deportationen durch. Die Nazis besiedelten die eroberten Gebiete im heutigen Polen etwa mit Deutschen und vertrieben die einheimische Bevölkerung. Gleichzeitig deportierte Stalin im Zuge des Zweiten Weltkriegs etwa eine Million Deutschstämmige nach Zentralasien und Sibirien. In Ira Peters Worten:

“Die Menschen wurden enteignet, viele starben während der Deportation, später in den Arbeitslagern und Sondersiedlungen für Deutsche. Die zerstreute Neuansiedlung leitete auch das Sterben der deutschen Kultur ein. Bis zur Ausreise ab Ende der  1980er blieben Deutsche in der Sowjetunion Menschen zweiter Klasse, weil es strukturell und im Alltag Diskriminierung gegen sie gab.” 

Was können wir von der Geschichte der Russlanddeutschen lernen?

Auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs und Stalins Tod 1953 durften Russlanddeutsche lange nicht in ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete in der Ukraine etwa zurückkehren. Eine Auswanderung nach Deutschland gelang den wenigsten. Erst Gorbatschows Politik gab  Deutschstämmigen die Möglichkeiten auszuwandern und in Deutschland als (Spät-)Aussiedler anerkannt zu werden.

Die Geschichte der Russlanddeutschen ist komplex und von Vertreibung, neuem Ankommen oder Zurückkommen in Deutschland geprägt. Gleichzeitig wissen viele in Deutschland nichts oder wenig über die Existenz von Russlanddeutschen. Dies zu ändern, daran wirkt Ira Peter mit, die für den Volksverpetzer beschreibt, was wir in einer postmigrantischen Gesellschaft wie der deutschen brauchen, um ein gutes Miteinander zu schaffen. Sie sagt:

“Es braucht Begegnungen. Nur wenn die Aufnahmegesellschaft versteht, dass Geflüchtete ebenso Menschen sind mit Eltern, Kindern, Traumata, Hoffnungen und Ängsten, kann gegenseitiges Verständnis wachsen, kann Annährung und ein Miteinander entstehen. Dafür ist auch Empathie nötig. Die wiederum treiben rechte Akteure Deutschland mit aller Gewalt aus. Geflüchtete verschmelzen in ihren Erzählungen zu einer fremdartigen, gefährlichen Masse, in der das Individuum nicht existiert – diese Entmenschlichung ist typisch für diktatorische Regime. Rechte schaffen kollektive Feindbilder, schüren Angst und Hass, was wiederum zu Ausgrenzung von Menschen mit Migrationsgeschichte und Gewalt führt. 

Wir müssen weiterhin das Individuum erkennen und uns für die einzelnen mitgebrachten Geschichten der Menschen interessieren. Das gilt auch in die andere Richtung. Zugezogene sind ebenso gefordert, sich der aufnehmenden Gesellschaft gegenüber zu öffnen, ihre Kultur zu respektieren, auch die Ängste bestimmter Menschen anzuerkennen – dieses gegenseitige Verstehenwollen und Respektieren ist essenziell für eine postmigrantische Gesellschaft wie Deutschland.”

Wie steht es um Russlanddeutsche heutzutage?

Das Individuum nicht vergessen, Begegnungen schaffen, Empathie mitbringen und sich verstehen wollen – diese Werte brauchen wir schon immer, aber gerade jetzt noch viel mehr. Viele Nachfahren von Aussiedlern und Spätaussiedlern beschäftigen sich heutzutage mit ihrer Familiengeschichte und wollen mehr Bewusstsein für diesen Teil der deutschen Auswanderungsgeschichte schaffen. 

Oftmals steht im Zentrum die Frage der eigenen Identität. Wurde man noch in Russland als “deutsch” angesehen, kippte die Außenwahrnehmung nach der Rückkehr nach Deutschland in “russisch” um. Dabei ist doch für ein gelungenes gesellschaftliches Zusammenleben vor allem ein “Zusammen” wichtig, nicht ein “wir” gegen “die”. 

Deutsche Migration nach Lateinamerika

Kommen wir zum Abschluss noch einmal zurück auf die Überseemigration. Du erinnerst dich: Die USA war vor allem im 19. Jahrhundert ein sehr beliebtes Auswanderungsziel. Ab den 1920 Jahren wurden aber auch einige lateinamerikanische Länder, darunter Brasilien, Argentinien oder Chile, beliebte Einwanderungsländer. Interessant ist, dass zehn Prozent aller Brasilianer:innen deutsche Vorfahren haben. Auch nach Lateinamerika wanderten die Deutschen aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen aus, waren also “Wirtschaftsflüchtlinge”. 

Auch in Chile beispielsweise blieben die Deutschen lieber unter sich und gründeten ihre eigenen Siedlungen – Stichwort Parallelgesellschaften.

Was allerdings nicht vergessen werden darf: Nicht nur Deutsche mit redlichen Absichten verließen ihre Heimat. So kam beispielsweise der Rassist Bernhard Förster nach Paraguay und gründete dort eine “arische” Siedlung. Auch Nazis fanden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Lateinamerika Unterschlupf, beispielsweise in Argentinien. Traurige Bekanntheit erlangte auch die colonia dignidad in Chile, eine Sekte gegründet in den 1960er Jahren von dem deutschen pädophilen Laienprediger Paul Schäfer, ein Unterdrückungsapparat mit Sklavenarbeit, Misshandlungen und systematischem sexuellem Missbrauch Minderjähriger. Auch die Gräueltaten der deutschen Kolonialmacht in Afrika finden bis heute nicht den Platz im öffentlichen Diskurs, den sie eigentlich einnehmen sollten. 

Fazit:

Deutsche emigrierten über die Jahrhunderte aus den verschiedensten Gründen, seien es wirtschaftliche, soziale, politische, religiöse oder andere. Also genau aus den Gründen, aus denen auch heutzutage Menschen nach Deutschland kommen. Auch Deutsche wurden in den jeweiligen Zielländern teilweise diskriminiert. Sie bildeten oftmals Parallelgesellschaften, haben sich nicht integriert, waren “Wirtschaftsflüchtlinge”. 

Migration ist in der Weltgeschichte der Norm- und nicht der Ausnahmefall. Eben deswegen und im Hinblick auf die Auswanderungsgeschichte unserer eigenen Vorfahren brauchen wir in unserer Gesellschaft mehr Bewusstsein und Empathie für die Geschichten derjenigen, die zu uns kommen. Auch in der eigenen Familiengeschichte zu wühlen und vielleicht Neues zu entdecken, kann dabei helfen. Um mit den Worten von Ira Peter zu schließen:

“Jeder hat in seiner Familie eine Migrationsgeschichte. Viele wissen es nur nicht oder wissen wenig darüber, weil Migration oft mit Verlust, manchmal auch mit Verfolgung und Tod verbunden ist – meist mit sozialem Abstieg und dem Gefühl, fremd und minderwertig zu sein. Wenn wir alle unsere Geschichten kennen würden, wäre unser Blick auf Menschen, die heute flüchten müssen, vielleicht ein anderer. Ich glaube, wenn es hier Vorbilder gibt, die öffentlich über ihre Migrationsgeschichten erzählen, könnte das positiv in unsere Gesellschaft hineinwirken.”

Anmerkungen

Ira Peter, in der Sowjetrepublik Kasachstan geboren und seit 1992 in Deutschland lebend, arbeitet als freie Journalistin unter anderem für Zeit online, taz, FAZ, Frankfurter Rundschau und SWR Radio. Seit 2017 setzt sie sich öffentlich – in journalistischen Beiträgen, im Aussiedler-Podcast Steppenkinder und als Rednerin bei Veranstaltungen – mit russlanddeutschen Themen auseinander. 2022 wurde sie für ihre Arbeit als Stadtschreiberin in Odessa mit dem Goldenen Blogger Award ausgezeichnet. Im März 2025 erscheint ihr Buch „Deutsch genug? Warum wir endlich über Russlanddeutsche sprechen müssen“ (Goldmann Verlag).

Vielen Dank, Ira, für Deine wertvollen Beiträge zu diesem Artikel!

Titelbild: Canva

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