Es ist Zeit für Europa, das Undenkbare zu tun

Brüssel hat Washington viel zu lange sklavisch gefolgt – und dabei vergessen, wie es seine eigenen geopolitischen Interessen voranbringen kann.

Von Kishore Mahbubani, Distinguished Fellow am Asia Research Institute der National University of Singapore.

Verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Maßnahmen. Und wie meine geopolitischen Mentoren mich lehrten: Man muss immer das Undenkbare denken – genau das muss Europa jetzt tun.

Es ist noch zu früh, um zu beurteilen, wer die wirklichen Gewinner und Verlierer der zweiten Trump-Regierung sein werden. Die Lage kann sich noch ändern. Doch eines steht fest: Europas geopolitisches Gewicht ist erheblich gesunken. Die Entscheidung von US-Präsident Donald Trump, mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu sprechen, ohne zuvor europäische Staats- und Regierungschefs zu konsultieren oder zu warnen, zeigt, wie irrelevant Europa inzwischen geworden ist – selbst wenn es um seine eigenen geopolitischen Interessen geht. Der einzige Weg, Europas geopolitische Position wiederherzustellen, ist die ernsthafte Erwägung dreier undenkbarer Optionen.

1. Europa sollte seine Bereitschaft zum Austritt aus der NATO erklären

Ein Europa, das gezwungen ist, 5 Prozent seines BIP für Verteidigung auszugeben, ist ein Europa, das die USA nicht braucht. Fünf Prozent des kombinierten BIP von EU und Großbritannien im Jahr 2024 belaufen sich auf 1,1 Billionen US-Dollar – vergleichbar mit den US-Verteidigungsausgaben von 824 Milliarden US-Dollar im selben Jahr. (Zum Vergleich: EU und Großbritannien gaben 2024 zusammen rund 410 Milliarden US-Dollar für Verteidigung aus.)

Ein tatsächlicher Austritt wäre möglicherweise nicht notwendig, aber allein die glaubwürdige Drohung würde Trump (sowie Vizepräsident J.D. Vance und Verteidigungsminister Pete Hegseth) aufwecken und ihn zwingen, Europa mit Respekt zu behandeln. Im Gegensatz dazu erweckt das beharrliche Festhalten Europas an der NATO nach Trumps provokativen Aktionen den Eindruck, als würde man die Stiefel lecken, die einem ins Gesicht treten.

Was viele in der Welt schockiert, ist, dass Europa seine aktuelle geopolitische Sackgasse nicht vorhergesehen hat. Eine der Grundregeln der Geopolitik besagt, dass man immer gegen das schlimmstmögliche Szenario planen muss. Doch nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs basierte das gesamte europäische strategische Denken auf dem Best-Case-Szenario: dass die USA ein vollkommen verlässlicher Verbündeter bleiben würden – obwohl man bereits Trumps erste Amtszeit und seine Drohungen erlebt hatte, aus dem weltweit größten Militärbündnis auszutreten. Für einen Kontinent, der strategische Köpfe wie Metternich, Talleyrand und Kissinger hervorgebracht hat, war das geopolitische Denken in Bezug auf die Ukraine und ihre langfristigen Konsequenzen beinahe kindlich naiv.

2. Europa sollte einen neuen strategischen Großkompromiss mit Russland erarbeiten

Wenn Metternich, Talleyrand oder Charles de Gaulle heute leben würden, würden sie zur zweiten undenkbaren Option raten: eine strategische Übereinkunft mit Russland, bei der beide Seiten ihre zentralen Interessen wahren.

Viele einflussreiche europäische Strategen würden diesen Vorschlag empört zurückweisen, weil sie Russland für eine ernsthafte Bedrohung der Sicherheit der EU-Staaten halten. Wirklich? Wer ist Russlands fundamentalster geopolitischer Rivale – die EU oder China? Mit wem hat Russland die längste gemeinsame Grenze? Und mit wem hat sich sein relatives Machtverhältnis am stärksten verändert?

Russland ist ein geopolitischer Realist höchsten Ranges. Man weiß dort genau, dass weder Napoleons Truppen noch Hitlers Panzer jemals wieder nach Moskau vorrücken werden. Die Europäer hingegen sehen den offensichtlichen Widerspruch nicht: Einerseits triumphieren sie darüber, dass Russland nicht einmal in der Lage ist, die Ukraine zu besiegen – ein Land mit 38 Millionen Einwohnern und einem BIP von etwa 189 Milliarden US-Dollar im Jahr 2024. Andererseits behaupten sie, dass Russland eine existenzielle Bedrohung für Europa sei – eine Region mit 744 Millionen Menschen und einem BIP von 27 Billionen US-Dollar im selben Jahr.

Russland wäre vermutlich bereit, einen fairen Kompromiss mit der EU auszuarbeiten, der die aktuellen Grenzen zwischen Russland und der EU respektiert und eine realistische Lösung für die Ukraine ermöglicht, die keine der beiden Seiten in ihren Kerninteressen bedroht.

Langfristig, nachdem sich das strategische Vertrauen zwischen Russland und einem geopolitisch autonomen Europa wiederhergestellt hat, könnte die Ukraine allmählich als Brücke zwischen der EU und Russland dienen, statt ein ständiger Zankapfel zu bleiben. Brüssel sollte sich glücklich schätzen, dass Russland – relativ betrachtet – eine schwindende Macht ist und keine aufstrebende. Wenn der Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN), ein vergleichsweise schwacher regionaler Zusammenschluss, es schafft, eine langfristige Vertrauensbeziehung zu einer aufstrebenden Macht wie China aufzubauen, dann sollte die EU das mit Russland erst recht schaffen können.

3. Europa sollte ein neues strategisches Abkommen mit China schließen

Auch hier zeigt sich, warum Geopolitik aus zwei Wörtern besteht: Geografie und Politik. Die geografische Lage der USA, die China über den Pazifik hinweg gegenübersteht, kombiniert mit Washingtons Streben nach Vorherrschaft, erklärt das feindselige Verhältnis zwischen den beiden Mächten. Aber welche geopolitischen Zwänge haben eigentlich zum Abbruch der Beziehungen zwischen der EU und China geführt?

Die Europäer glaubten naiv, dass eine sklavische Loyalität gegenüber den geopolitischen Prioritäten der USA ihnen große strategische Vorteile bringen würde. Stattdessen wurden sie getreten.

Bemerkenswert ist, dass China der EU helfen könnte, ihr wirkliches geopolitisches Langzeitproblem zu bewältigen: das demografische Wachstum in Afrika.

1950 hatte Europa doppelt so viele Einwohner wie Afrika. Heute ist Afrikas Bevölkerung doppelt so groß wie die Europas. Bis 2100 wird sie sechs Mal größer sein. Falls Afrika seine Wirtschaft nicht entwickelt, wird es eine massive Migrationswelle nach Europa geben. Wer glaubt, dass Europa niemals eigene Versionen von Trump hervorbringen wird, täuscht sich gewaltig. Elon Musk ist nicht der einzige Milliardär, der rechtsextreme Parteien in Europa unterstützt.

Um ein Europa zu erhalten, das von gemäßigten Parteien regiert wird, sollte jede ausländische Investition in Afrika willkommen sein, die dort Arbeitsplätze schafft und die Menschen vor Ort hält. Doch stattdessen schießt sich Europa selbst ins Bein, indem es Chinas Investitionen in Afrika kritisiert und blockiert. Allein diese Haltung zeigt, wie naiv das langfristige strategische Denken in Brüssel geworden ist. Die EU opfert ihre eigenen Interessen, um den USA zu gefallen – in der Hoffnung, für ihre geopolitische Unterwürfigkeit belohnt zu werden.

Doch das ist nicht der Fall.

Zweitausend Jahre Geopolitik lehren uns eine einfache Wahrheit: Alle Großmächte stellen ihre eigenen Interessen an erste Stelle – und wenn nötig, opfern sie die ihrer Verbündeten. Trump handelt also schlicht als rationaler geopolitischer Akteur, indem er das verfolgt, was er für das Beste für sein Land hält.

Europa sollte Trump nicht nur kritisieren – es sollte ihn nachahmen.

Die EU muss das derzeit Undenkbare tun: Erklären, dass sie ab sofort ein strategisch autonomer Akteur auf der Weltbühne sein wird, der seine eigenen Interessen an erste Stelle setzt. Vielleicht würde Trump Europa dann endlich mit Respekt behandeln.

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