ATACMS gegen Russland: Westen wartet auf Putins Entscheidung

Von Irina Alksnis

Westliche Staaten, nämlich die USA, Großbritannien und Frankreich, haben Kiew die Erlaubnis erteilt, Langstreckenwaffen gegen russisches Territorium einzusetzen. Die Rede ist von Raketen der Typen ATACMS, SCALP und Storm Shadow, deren maximale Reichweite 300 Kilometer beträgt.

Diese Information hat einen inoffiziellen Charakter. Über die Entscheidung des US-Präsidenten Joe Biden berichtete The New York Times, und über die Entscheidungen von London und Paris die Zeitung Le Figaro. Das Weiße Haus verzichtete auf Kommentare und hat die Meldungen der Medien weder bestätigt noch widerlegt. Ein Vertreter von Trumps Übergangsteam berichtete, dass der neue Präsident diese Entscheidung "revidieren" könnte. Freilich implizieren diese Worte deutlich, dass er sie auch nicht revidieren könnte.

Auf den ersten Blick erscheint die Art, die Entscheidung über einen unbestätigten Leak in den Medien anzukündigen, merkwürdig. Doch auf ihre eigene Weise ist es eine geistreiche Entscheidung beim Versuch, aus der Sackgasse hinauszufinden, in die der Westen gelangte. Diese Entscheidung entspricht auch den Interessen von sämtlichen Gruppierungen und Clans des US-amerikanischen und europäischen Establishments, trotz der tiefen Widersprüche und Feindschaft, die sie trennen – Donald Trump und sein Team eingeschlossen.

Russland ist dabei, sowohl am Schlachtfeld als auch bei der wirtschaftlichen Konfrontation, als auch im geopolitischen Kampf zu gewinnen. Dabei ist der Handlungsspielraum für den Westen äußerst eingeschränkt, unabhängig davon, ob er die Strategie einer Fortsetzung des Konflikts oder eines Ausstiegs wählt. Die Möglichkeiten, den Krieg im gegenwärtigen Format weiterzuführen, sind praktisch erschöpft, und im Hinblick auf Moskaus militärische Erfolge wird es zudem eine Verschwendung von immer knapper werdenden Ressourcen sein. Doch auch mit einem Ausstieg aus dem Konflikt gibt es ernsthafte Probleme. Donald Trump verspricht mit lautstarken Ankündigungen, den Krieg binnen 24 Stunden zu beenden, doch das ist nur dann möglich, wenn der Westen seine Niederlage eingesteht und Moskaus Bedingungen akzeptiert. Offensichtlich ist das für den gewählten US-Präsidenten nicht hinnehmbar, also braucht er Druckhebel, mit denen er Russland zu den für es inakzeptablen Zugeständnissen zwingen könnte.

Es stellt sich also heraus, dass in diesem Fall die Interessen aller Gruppen zusammenfallen. Dies gilt sowohl für "Falken", die sich nach einer Fortsetzung des Kriegs gegen Russland sehnen, als auch für "Tauben", die das gescheiterte ukrainische Projekt beenden und sich wichtigeren Richtungen, wie China, widmen wollen, als für Europäer, die sich fürchten, allein die Konfrontation gegen Moskau und Kiews Unterstützung tragen zu müssen.

Doch hierbei hat der Westen ein ernsthaftes Problem: die Möglichkeiten für Eskalation und Erhöhung der Einsätze stoßen auf eine kritische Einschränkung, nämlich Moskaus Ankündigung, dass Angriffe mit Langstreckenraketen auf russisches Territorium als ein direkter Kriegseintritt des Westens mit entsprechender Reaktion durch Russland gewertet werden.

In den vergangenen Jahren nutzte der Westen bei seiner Konfrontation mit Russland die Methode von zunehmender Auflockerung und dem Überschreiten roter Linien. Heute will er die gleiche Technologie in Bezug auf die gefährlichste davon, die von Wladimir Putin persönlich gezogen wurde, nutzen.

Gerade deswegen geschieht alles streng nach dem Leitfaden, allerdings wurden diesmal zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Zunächst kommt ein unbestätigter Leak in den Medien. Zusätzlich wird Russland ein "Zuckerbrot" vorgehalten, damit es nicht zu scharf reagiert: Trump könnte nach seinem Einzug ins Weiße Haus Bidens Entscheidung aufheben, man müsse sich nur ein paar Monate gedulden. Auch die Betonung des Themas von nordkoreanischen Militärangehörigen, die sich angeblich in Grenzregionen befinden und zu Hauptzielen für US-Raketen werden sollen, geht in die gleiche Richtung – es sei ja vor allem ein Signal an Kim Jong-un, also würden ein dritter Weltkrieg und eine nukleare Apokalypse als Reaktion auf ATACMS-Angriffe auf das Gebiet Kursk eine überzogene Reaktion sein.

Gegenwärtig erwarten westliche Staaten auf beiden Seiten des Atlantiks nervös, wie Moskau auf die Herausforderung reagiert. Sollte eine Reaktion erfolgen, die die USA und Europa erschreckt, werden wir eine umgehende Widerlegung der Leaks sehen. Werden sie allerdings glauben, dass Russland nicht riskieren werde, die Welt an den Rand der Vernichtung wegen der Angriffe von NATO-Raketen auf eigenes Territorium zu bringen, sind solche Angriffe zu erwarten.

Das Problem besteht darin, dass die westliche regierende Klasse gänzlich aufgehört hat, die Bedeutung von Worten zu verstehen, und nur Gewalt in ihrer gröbsten Form akzeptiert. Also ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass keine Ankündigungen der russischen Staatsführung für die Organisatoren und Teilnehmer dieses Abenteuers zu einem überzeugenden Beleg werden, dass Moskau es ernst meint.

Ihr Plan hat allerdings einen Makel: Der Westen vermutet, dass Putin kaum einen dritten Weltkrieg wegen einer solchen "Kleinigkeit" wie Angriffe von Langstreckenraketen auf russisches Territorium beginnen wird. Doch ist der Westen selbst bereit, diesen Krieg zu beginnen, wenn Russland als Reaktion auf einen ATACMS-Angriff ein militärisches Objekt der NATO angreifen würde und beispielsweise ein US-amerikanisches Aufklärungsflugzeug über dem Schwarzen Meer vom Himmel holt? Es ist doch nur eine Kleinigkeit.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 18. November 2024.

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