«Alle Tiere würden fliehen, wenn sie könnten»

Viele Menschen reduzieren Tiere auf ihre Instinkte. Neuere Forschung zeigt jedoch: Tiere treffen bewusste Entscheidungen, gestalten ihre Umgebung und beeinflussen ihre sozialen Beziehungen. Besonders eindrucksvoll zeigen Tiere ihre Fähigkeiten, wenn sie sich menschlicher Gewalt widersetzen. Dazu hat die Aktivistin und Autorin Sarat Colling das Buch «Animal Resistance in the Global Capitalist Era» geschrieben. Tobias Sennhauser (TIF) hat mit ihr gesprochen.

TOBIAS SENNHAUSER: Das Titelblatt deines Buches zeigt einen Elefanten, der durch Basel rennt. Was ist da passiert?

SARAT COLLING: Der Elefant hat 1929 einen Fluchtversuch unternommen, indem er aus seinem Gehege im Zoo Basel ausbrach. Während Angestellte ihn verfolgten, versteckte sich der Elefant in einem nahegelegenen Garten. Kurz darauf wurde er wieder eingefangen.

Dein Buch handelt vom «tierlichen Widerstand». Was meinst du damit?

Tierlicher Widerstand (engl. animal resistance) steht für den Kampf nichtmenschlicher Tiere für Autonomie und gegen menschliche Unterdrückung. Tiere lehnen Ausbeutung, Gefangenschaft und Enteignung ab. Sie haben sich so lange widersetzt, wie Menschen ihr Leben durch Gewalt oder Zerstörung ihres Lebensraums beeinträchtigten. Dieser Widerstand umfasst Flucht, Vergeltung, Befreiung von Artgenossen oder alltäglicher Trotz.

Erzähle einige Beispiele.

Gerne, es gibt so viele Geschichten, wenn wir erst einmal anfangen zu suchen. Nach jahrelanger Grausamkeit im Zirkus entkam eine Elefantenkuh namens Tyke und rannte durch die Strassen der Stadt. Danach wurde sie tragischerweise 86 Mal angeschossen und getötet. Der Pottwal Mocha Dick rammte ein Walfangschiff, um den Tod seiner Artgenossen zu rächen und die überlebenden Wale zu retten. Berggorillas der Kuryama-Gruppe demontieren gefährliche Fallen und warnen andere davor.

Durch ihren Widerstand beeinflussen diese Individuen Gesellschaft und Politik und lenken die Aufmerksamkeit auf die Notlage der Tiere. Egal, ob auf Bauernhöfen, in Schlachthäusern, in Laboren oder in Zirkussen, wenn sich Tiere widersetzen, werden sie hochgradig sichtbar. Indem sie künstliche, menschengemachte Grenzen durchbrechen, hinterfragen sie die Vorstellung von «stimmlosen» Tieren.

Wie reagiert die Öffentlichkeit auf tierlichen Widerstand?

Die Fleischlobby bemüht sich um Schadensbegrenzung, um den Status quo aufrechtzuerhalten. Tierhaltende spielen tierlichen Widerstand herunter, indem sie ihn als Unfall beschreiben. Sie lenken damit von der harten Realität der Tierausbeutung ab. Das sind «Distanzierungsstrategien», wodurch Tierprodukte von ihrer Herkunft entkoppelt werden sollen.

Auch in der Schweiz ergreifen Tiere immer wieder die Flucht, wie in Oensingen oder Seewen. Die Medien berichten offenbar gerne darüber. 

Allerdings. Auch die Medien beteiligen sich an den Distanzierungsstrategien. Wenn Tiere entkommen, werden sie medial gefeiert, als ob sie ihre Freiheit «verdient» hätten. Diese Erzählung fördert selektive Empathie, während sie die Qualen ignoriert, die die Tiere zur Flucht gezwungen haben.

Dennoch inspirieren Geschichten von widerständigen Tieren zum Nachdenken und durchbrechen Distanzierungsstrategien. Während jedes Jahr Milliarden für den menschlichen Konsum getötet werden, werden widerständige Tiere als Individuen anerkannt.

Und wie reagiert die Bevölkerung?

Gemischt, von Empathie bis kognitiver Dissonanz. Nehmen wir den Fall einer Kuh in Montana, die 2006 floh und den Missouri River durchschwamm. Benannt wurde sie «Unsinkable Molly B». Ihre Geschichte endete, dank grosser Medienaufmerksamkeit und öffentlicher Unterstützung, glücklich auf einem Lebenshof.

Weniger bekannt ist, dass am selben Tag mehrere Schafe aus demselben Schlachthaus flohen. Nach ihrer Gefangennahme wurden sie ohne öffentlichen Aufschrei geschlachtet. Diese Diskrepanz verdeutlicht einen inhärenten Widerspruch: Viele, die die Freiheit widerständiger Tiere feiern, unterstützen gleichzeitig das System, indem sie andere Tiere konsumieren. Dabei würden alle Tiere fliehen, wenn sie könnten.

Was passiert mit Tieren, die erfolgreich flüchten?

Sie finden zum Beispiel auf Lebenshöfen einen Platz, wo Gemeinschaften verschiedenster Arten entstehen und Traumata heilen können. Neben der Pflege der Tiere informieren Lebenshöfe die Öffentlichkeit über das ausbeuterische System, das den Widerstand der Tiere nötig macht.

Tiere auf Lebenshöfen gestalten ihre Gemeinschaft aktiv mit. Zum Beispiel übernahm eine Kuh namens Justice die Rolle, neue Bewohner:innen im Peaceful Prairie Animal Sanctuary willkommen zu heissen. Justice entkam selbst einem Schlachthaus-LKW. Als sie auf dem Lebenshof ankam, leckte sie ein Ochse namens Sherman durch einen Zaun und zeigte ihr so, dass sie sicher war. Justice erinnerte sich an diese freundliche Geste und spendete fortan ihrerseits neuen Ankömmlingen Trost.

Der Widerstand von Tieren hat mit Filmen wie «Chicken Run» (2000) Einzug in die Popkultur gefunden. Besteht nicht auch das Risiko, Tiere zu vermenschlichen?

Menschen neigen dazu, sich selbst durch Darstellungen anderer Tiere zu repräsentieren. Dies geschieht in verschiedenen Kontexten. Andererseits bietet ein Film wie «The Plague Dogs» (1982) eine realistischere Darstellung des Tierwiderstands, worin sich Hunde wie Hunde verhalten.

Vieles von dem, was historisch als Vermenschlichung bezeichnet wurde, wurde später durch wissenschaftliche Forschung unterstützt. Marc Bekoff schlägt in seinem Konzept des «biozentrischen Anthropomorphismus» vor, dass wir tierliches Verhalten aus der Perspektive der Tiere interpretieren sollten. Und zwar indem wir ihre sozialen Strukturen und moralischen Verhaltensweisen als Formen von Gerechtigkeit und Empathie anerkennen, die für ihre Art einzigartig sind.

Es ist wichtig, die einzigartigen gelebten Realitäten von Tieren darzustellen und sie gleichzeitig als Akteur:innen sozialen Wandels anzuerkennen. Doch selbst die fantastischeren Darstellungen des Tierwiderstands spiegeln in gewissem Masse ein sich entwickelndes Verständnis des Lebens der Tiere wider, das herkömmliche Ansichten herausfordert.

Wie sollten Tierrechtsorganisationen auf tierlichen Widerstand reagieren?

Tierrechtsorganisationen können solidarisch handeln und Aktivitäten zur Unterstützung des Widerstands organisieren. Wenn Tiere fliehen, können sie die Öffentlichkeit mobilisieren, indem sie vor Ort protestieren. Social-Media-Kampagnen können die Freilassung der Tiere fordern und Entscheidungsträger:innen mit den Missständen konfrontieren. Dieses Engagement hält das Individuum in der Öffentlichkeit, sodass es nicht wieder im System verschwindet.

Was kann ein solcher Protest bewirken?

Nehmen wir nochmals das Beispiel der bereits erwähnten Tyke. Sie wurde 1973 aus Mosambik entführt und landete in der Gefangenschaft in Zirkussen. Sie widersetzte sich den Befehlen ihrer Trainer, obwohl sie dafür Prügel einstecken musste. Ihr tragisches Schicksal wurde im August 1994 bekannt. Während einer Vorstellung in Honolulu wehrte sie sich und flüchtete durch die Strassen der Stadt. Die Polizei stellte Tyke und tötete sie mit fast 100 Schüssen. Ihre tragischen letzten Momente wurden international ausgestrahlt, was Debatten, Proteste und rechtliche Schritte gegen die Verwendung von Tieren in Zirkussen auslöste.

In den folgenden Jahren verboten mehr als 20 Länder und über 300 Städte und Regionen die Verwendung von Wildtieren in Zirkussen. Klagen wurden gegen den Zirkus sowie gegen die Stadt Honolulu und den Staat Hawaii eingereicht. Im Jahr 2004 wurde der Zirkusbesitzer wegen mehrerer Verstösse gegen den Tierschutz angeklagt, was zu einer Geldstrafe und der Beschlagnahme von Elefanten führte.

Tyke wurde zum Katalysator für die Gründung des Elephant Sanctuary in Tennessee, einem 2.700 Hektar grossen Zufluchtsort, wo sechs dieser Elefanten leben. Tyke hätte eine davon sein und endlich Gras unter ihren Füssen spüren sollen. Aber ihr Kampf war nicht umsonst. Durch ihren Widerstand machte Tyke den Kampf der Elefanten, die zur Unterhaltung genutzt werden, sichtbar und wurde zu einem mächtigen Symbol für die Befreiung der Tiere. Tiere stehen an vorderster Front ihrer sozialen Bewegung.

Wie müsste sich unsere Gesellschaft verändern, damit Tiere nicht länger Widerstand leisten müssen?

Wir müssen die Strukturen abbauen, die die Unterdrückung von Tieren aufrechterhalten. Dazu gehört, dass wir die menschliche Sonderstellung und kapitalistischen Logiken auflösen, die Tiere zu Eigentum und Handelswaren machen.

Wir müssen unsere Beziehungen zu anderen Tieren radikal neu gestalten. Ein mächtiges Beispiel findet in der Schweiz statt, wo Sarah Heiligtag und ihr Team die Landwirtschaft transformiert. Im Jahr 2013 erwarben sie einen Bauernhof in Hinteregg und verwandelten ihn in einen veganen Hof und Lebenshof. Seitdem haben sie mit ihrer Initiative «Transfarmation» über hundert Bäuer:innen dabei geholfen, auf pflanzenbasierte, nachhaltige Landwirtschaft umzusteigen.

Die tierliche Landwirtschaft muss durch Wälder, Lebenshöfe, Gärten und offenes Land ersetzt werden, und Tiere sollten wieder ausgewildert werden (engl. rewilding). Indem wir uns solidarisch mit Tieren im Widerstand zeigen, schaffen wir eine gerechte Welt für alle.

Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Tobias Sennhauser. Lies auch das Original.

Der Beitrag «Alle Tiere würden fliehen, wenn sie könnten» erschien zuerst auf Tier im Fokus (TIF).

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